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Kurator'in für: Europa Volk und Wirtschaft
Jahrgang 1953
Studium der Elektrotechnik und Elektronik
Forschung / Lehre auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Innovationstheorie
Entwicklung von Forschungsprogrammen im IKT-Sektor für verschiedene Bundesministerien und Begleitung der Programme und Projekte - darunter Smart Energy, Elektromobilität, netzbasiertes Lernen, Industrie 4.0
Nun im Un-Ruhestand
Zwischen Russland und Deutschland gelegen, gilt die Ukraine seit langem als Ort des Kampfes um die Herrschaft des Kontinents.
Und in verschiedenen „Erzählungen" wurde dieser Gedanke ausgebaut und verstärkt. So wagte 1904 (also weit vor Brzezinski)
ein englischer Geograph namens Halford John Mackinder eine starke Vorhersage. In einem Artikel mit dem Titel "The Geographical Pivot of History" meinte er, dass jeder, der Osteuropa kontrolliert, die Welt kontrollieren würde. Auf beiden Seiten dieser riesigen Region waren Russland und Deutschland bereit zu kämpfen. Und dazwischen war die Ukraine mit ihren reichen Ressourcen an Getreide, Kohle und Öl.Das Konzept gelangte wohl über den Nazi-Geopolitiker Karl Haushofer in Hitlers "Mein Kampf". Und auch Lenin und Stalin handelten nach dieser Vorstellung. Ohne wahrscheinlich Mackinder gelesen zu haben. Und der Gedanke könnte auch ein Grund für Putins Behauptung sein, Ukraine und Russland sind ein Land, Russen und Ukrainer seien gemeinsam mit den Belarussen ein Volk und gehörten zur historischen „dreieinigen russischen Nation“. Er zitiert damit die Hauptthese der Geschichtswissenschaft des russischen Imperiums. Wohingegen die ukrainische historische Schule behauptet, die Kiewer Rus sei eigentlich kein russischer, sondern ein ukrainischer Staat gewesen.
Das ist natürlich völlig falsch. Aber er (Putin) hat Recht, wenn er denkt, dass die Geschichte einen Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart bereithält.Eigentlich war aber die Rus weder russisch noch ukrainisch. Und sie war auch kein Staat. Am Anfang steht etwas wie die Dänische Westindien-Kompanie, die als Handelsorganisation New York gründete. Oder die Ostindien-Kompanie, die als Kolonisator ganz Indien eroberte um es dann dem britischen Empire zu übergeben.
In ähnlicher Weise war Rus ein skandinavischer Stamm – die eine Hälfte waren Krieger, die andere Kaufleute –, die auf der Suche nach Handelswegen nach Konstantinopel entlang des Dnipro und der umliegenden Gebiete ihre Macht errichteten.Daraus entstand dann allmählich ein mittelalterlichen Reich in Osteuropa. Die historische Schlüsselfigur, der Kristallisationspunkt dieses Reiches war dann Wladimir der Große, der 988 von Byzanz zum Christentum konvertierte.
Beide sind verwandt, aber nicht gleich. Die Verwandlung der Rus in die Ukraine – und am Ende der Rus in Russland – geschah viel später, in der Neuzeit. Etwa zur gleichen Zeit wie die Staatenbildung bei anderen Ländern und Völkern des europäischen Kontinents. Mit einer gewissen Einschränkung kann man davon ausgehen, dass in der Ukraine der Ausgangspunkt (der Selbstwerdung Th. W.) die Entstehung des Kosakenstaates Mitte des 17. Jahrhunderts war. In Russland waren es die Reformen des russischen Zaren Peter des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts.Der Kosakenstaat verschwand nach der Übernahme in das Russische Reich, die Erinnerung blieb jedoch und ermöglichte so die Wiederbelebung der nationalen Idee der Ukrainer im 19. Jahrhundert und dann den Aufbau des ukrainischen Staates während des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1917. Das heißt auch, so der Autor
Lenin (hat) die Ukraine nicht geschaffen. Er machte einfach Zugeständnisse an die Explosion des ukrainischen Nationalbewusstseins. Ohne diese Zugeständnisse wäre die bolschewistische Regierung nicht in der Lage gewesen, die ukrainischen Ländereien zu halten. Die so entstandene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik war eine Art Hybrid aus Sozialismus und Nationalismus. Die Verhältnisse zwischen dem einen und dem anderen variierten je nach den Umständen.
Und nach dem Zusammenbruch des Sozialismus blieb zunächst der Nationalismus im Chaos des Neuanfangs. Dazu noch die Unterschiede in den Traditionen der Ost- und Westukraine.
Hryzak sieht daher sein Land, mit seiner verwirrenden Historie zwischen Ost und West, als klassisches Beispiel für das "Hummelparadoxon".
Nach den Gesetzen der Aerodynamik sollte eine Hummel nicht fliegen. Trotzdem fliegt sie. Ebenso dürfte die Ukraine – träfen zahlreiche Erwartungen und Befürchtungen zu – eigentlich nicht als stabile nationale Gemeinschaft existieren. Gleichwohl existiert sie.Verschiedene ukrainischen liberalen Historiker erklären dieses Paradoxon daraus, dass sich Ukrainer und Russen einerseits in Sprache, Religion oder Kultur relativ nahe sind. Andererseits sich aber historisch unterschiedliche politische Traditionen, unterschiedliche Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, Regierung und Opposition entwickelt haben. Dazu wieder Hryzak:
Ich formuliere diese These für die gegenwärtigen Verhältnisse wie folgt um: In der Ukraine ist ein siegreicher Putin unmöglich, in Russland ist ein siegreicher Maidan unmöglich.Aber der Artikel macht auch Hoffnung. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stritten deutsche und französische Politiker oder Historiker erbittert darüber, wer Karl der Große war – Deutscher oder Franzose?
Seine elegante Beilegung fand der Streit nach der deutsch-französischen Aussöhnung in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts: Karl der Große wurde zum Vater eines neuen vereinten Europas ausgerufen. Wir können auch hoffen, dass Prinz Wladimir der Große von Kiew eines Tages der Vater eines neuen, weit nach Osten gedrängten Europas wird.Aber sicher nicht mit Wladimir dem Putin.
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