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Europa

Europa – mehr Dahrendorf wagen?

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlMontag, 17.06.2019

Leider hat - soweit ich das sehe - Ralf Dahrendorf als liberaler Denker keinen kongenialen Nachfolger gefunden. Die Wechselbeziehung von Konflikt und Wandel standen im Zentrum seines Denkens. Den Wandel steuern heißt Konflikte als Motor der Entwicklung zu beherrschen, zu kanalisieren.

Die von Dahrendorf am meisten bewunderte Reform ist daher «die Schaffung des Rechtsstaats», dessen Institutionen über Mechanismen der Konfliktregulierung die Freiheit sichern. Dabei bedarf der Rechtsstaat des Nationalstaats «als Gehäuse des Rechts». Doch deutsche Intellektuelle könnten «mit dem Gedanken der Nation nicht fertig werden», da sie zumeist auf die Irrwege des deutschen Nationalstaats fixiert seien und den Nationalstaat als Fehlkonstruktion ansähen, die es zu überwinden gelte.

Wobei für ihn das Plädoyer für den Nationalstaat einherging mit der Einheit eines Europas der Nationen in entsprechenden Institutionen. Aber es ging ihm nicht um die „romantisch gefärbten Projektionen eines den Nationalstaat überwindenden Europas“. Und er gestaltete diesen Prozess mit - in der ersten Regierung Brandt als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt und  ab 1970 bis 1974 als Kommissar der EG-Kommission für Außenhandel für Forschung, Wissenschaft und Bildung.

Als Wirtschaftsdenker stand er den Positionen des Ordoliberalismus nahe, hatte aber auch für das Konzept eines Grundeinkommens („Bürgergeld“) Sympathie.

Für Deutschland sah er «das Syndrom der rückwärtsgewandten Modernität unverändert lebendig». In Industrie, Demokratisierung und Bürokratisierung war die Nation um 1900 modern wie England oder die USA.

Sie unterschied sich in der Weltanschauung der Deutschen im Vergleich zu den beiden angelsächsischen Nationen: dort Fortschrittsoptimismus, hier ängstliche Abwehr der Moderne.“

Dahrendorf dachte die Bürgergesellschaft unabhängig vom Staat, vor dem Staat  – „in Deutschland ist das eine radikal abweichende Perspektive.“ Darüber sollten wir neu nachdenken ...



Europa – mehr Dahrendorf wagen?

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Kommentare 9
  1. Hansi Trab
    Hansi Trab · vor mehr als 5 Jahre · bearbeitet vor mehr als 5 Jahre

    Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich der Stoßrichtung des Artikels uneingeschränkt folgen kann. Dahrendorfs Kritik an der EU entsprang doch immer eher im Hinblick auf einen zunehmend zentralistischen, wirtschaftlichen Bürokratismus, weniger im Hinblick auf die Möglichkeit einer politischen Einigung. Ich wäre daher vorsichtig, ihn so zu lesen, als wäre er ein Fürsprecher eines Europas der Nationen und ein Gegner eines Europas der Bürger gewesen. Das würde allein schon seiner Vorliebe für echte politische Streitkultur und eben auch ganz klar seiner Vorstellung von Bürgergesellschaft widersprechen. Ist die Struktur entsprechend angelegt, dann kann sie sich durch Konflikt wandeln und den Bedürfnissen der Bürgergesellschaft anpassen. Ich denke deshalb nicht, dass er einem europäischen Staat mit entsprechender liberaler und föderaler Struktur abgeneigt gewesen wäre. Im Gegenteil: die EU ist eben einfach (noch) nicht entsprechend angelegt.

    1. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 5 Jahre · bearbeitet vor mehr als 5 Jahre

      Es ist ja auch nicht unbedingt ein Gegensatz zw. einem Europa der Bürger und einem der Nationen. Nur müssen vorher reife und relativ ähnlich entwickelte, ähnlich tickende Nationen der Bürger existieren. Zur Zeit scheint es eher so zu sein, dass einige „Europaromantiker“ meinen, den Bürgern ein die Vielfalt der unterschiedlich entwickelten Nationen überwindendes Europa schmackhaft machen zu können. Ich glaube nicht, dass eine Reifung der Bürgergesellschaft „von Oben“ (von Brüssel aus) dann funktioniert.

    2. Hansi Trab
      Hansi Trab · vor mehr als 5 Jahre

      @Thomas Wahl Volle Zustimmung. Die "Reifung", wie Du es trefflich nennst, müsste von unten kommen. Die Kommunen müssten vorangehen und unter maximaler Ausnutzung des Subsidiaritätsprinzips die Zwischenebene der Nationalstaaten irrelevant machen. So könnten z.B. auch in zentralistischen Staaten tragfähige föderale Strukturen entstehen.

      Die Frage ist nur: gäben die Nationalstaaten, die EU und natürlich allen voran die Parteien, an deren Machtbasis ein solcher Wandel am meisten nagen würde, den Kommunen überhaupt so viel Platz? Leider sehe ich da aktuell wenig politischen Spielraum.

    3. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 5 Jahre

      sehe ich ähnlich. verstehe auch diesen hochstilisierten gegensatz Europa der Nationen vs Europa über Nationen nicht: es kann beides sein. Zudem wo bitte kommen denn die aktuellen nationen Nationalstaaten her? aus der Überwindung Evolution früherer kleinerer nationen (und anderer Konstrukte). und im Gegenteil heutige Nationalstaaten weisen oft noch Probleme mit Ihrer unfertigen bzw. gewaltmäßigen nationaleinigung auf wie etwa Belgien oder Spanien...
      insofern: die EU enthält nationen besteht aus (national)staaten ok. aber enthält auch Länder Regionen Provinzen gruppen Städte etc. und nicht zuletzt Bürger. Bürger die eben teil verschiedener Organisationen und Gruppierungen sind.

    4. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 5 Jahre

      @Cornelia Gliem Zum Gegensatz wird es, wenn man sich nicht einigt, wer für was zuständig ist. Und wenn man die Völker nicht in die Einigung einbezieht. Und natürlich, wenn man die Subsidiarität nicht leben läßt ....

    5. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 5 Jahre

      @Thomas Wahl ok. aber das kennen wir auch innerhalb unserer nation: Bundesländer Kommunen Bund

    6. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 5 Jahre

      @Cornelia Gliem Ja, aber das löst man ja nicht, indem man noch eine Entscheidungsebene draufsetzt.

    7. Cornelia Gliem
      Cornelia Gliem · vor mehr als 5 Jahre

      @Thomas Wahl wieso sollte eine Ebene mehr oder weniger was mit Lösungen zu tun haben?
      wir diskutieren ja normalerweise sich nicht ob wir zwischen kreis und bund noch die Länder benötigen oder so. ... und Subsidiarität und föderalität ist doch auf die (vorhandenen) ebenen angewiesen.

    8. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als 5 Jahre

      @Cornelia Gliem Wenn eine Ebene mehr nicht zu Lösungen beiträgt, benötigt man sie nicht. Jede hierarchische Entscheidungsebene (oder jedes neue Teilsystem) schluckt Zeit und Ressourcen, ist i.d. R. weiter weg vom realen Leben und entwickelt eine Eigendynamik. Die Komplexität des Gesamtsystems steigt. Man muß sich also sehr genau überlegen, was man davon braucht. Das gilt m.E. auch für die EU. Außenpolitik, Außengrenzen, Verteidigung und allgemeine Regeln ja - neue Regierungsverantwortungen nach innen m.E. eher nein.

      Im übrigen diskutieren wir auch national zumindest über die Anzahl der Bundesländer oder Verwaltungsbezirke. Wir legen Kommunen zusammen etc.. Zusätzliche national Ebenen diskutiert man in D in der Tat nicht. In vielen anderen Staaten wollen allerdings Teile aus dem Verbund aussteigen usw..

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