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Eine unbequeme Wahrheit - reloaded by Johan Rockström et al.

Ole Wintermann
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Ole WintermannSamstag, 04.11.2023

Manchmal kann es nicht schaden, auch die Originaltexte zu lesen, auf die sich News-Plattformen beziehen, statt sich nur auf die Zusammenfassungen der News-Plattformen zu verlassen. Hierbei geht es nicht darum, dass diese nicht glaubwürdig wären, sondern vielmehr darum, tiefere Zusammenhänge besser zu verstehen. Einen solchen Text möchte ich heute ausdrücklich empfehlen. Es geht um den bei Oxford Academic (BioScience) erschienenen Text von Johan Rockström (PIK Potsdam) und anderen zum Vordringen des Klimas und der Klimawissenschaft in unbekanntes Gebiet ("unchattered territory"). Die Dramatik wird aus meiner Sicht nochmal deutlicher, wenn die mahnenden und teils Entsetzen ausdrückenden Worte von den Forschenden selbst formuliert werden:

"We are entering an unfamiliar domain regarding our climate crisis, a situation no one has ever witnessed firsthand in the history of humanity."

Das Jahr 2023 ist schon jetzt von einer Vielzahl klimabezogener Extreme gekennzeichnet, die so in der Dramatik und Kurzfristigkeit von keinem Klimamodell vorhergesehen worden sind:

  • Die höchste tagesbezogene Durchschnittstemperatur auf der Erde seit mindestens 100.000 Jahren,
  • die geringste jemals gemessene Eisbedeckung der Antarktis und der globalen Meereseisfläche insgesamt,
  • die höchste jemals gemessene Oberflächentemperatur im Nordatlantik,
  • die höchste jemals gemessene Oberflächentemperatur der Ozeane der gemäßigten Breiten,
  • die weitaus höchste Anzahl an Tagen mit einer globalen Durchschnittstemperatur jenseits des 1,5 Grad-Ziels.

Sicher ist das Jahr 2023 durch eine ungünstige Kombination von Temperaturtreiber gekennzeichnet – dem El Nino-Effekt, dem Unterwasserausbruch des Tonga-Vulkans und dem Verbot besonders schwefelhaltiger Treibstoffe in der Seeschifffahrt. Diese Sondereffekte sind aber nahezu bedeutungslos, wenn gleichzeitig berücksichtigt wird, dass 20 der 35 sogenannten Vitalparameter für das Leben auf der Erde – z.B. die Gesamtenergiebilanz der Erde und der Ozeane, die Summe der GHG-Emissionen, die Versauerung der Ozeane, der Meeresspiegelanstieg, die Gesamtfläche verbrannten Waldes, die Zahl der weltweiten Hitzetage usw. – negative Rekordwerte erreicht haben. 

Wie reagieren die Menschen weltweit auf diese Alarmzeichen? Mit einem Rekordverbrauch an Kohle, mit einem Rekordumfang der Subventionen fossiler Energieträger.

Besonders beunruhigt die Forscher zunehmend die aus dem Gleichgewichte geratene Energiebilanz der Ozeane. Die Energieaufnahme erreicht einerseits Rekordwerte, andererseits steigen plötzlich in vielen Weltregionen die Oberflächentemperaturen der Meere extrem an. Dadurch werden sowohl das maritime Leben als auch wichtige Meeresströmungen bedroht. In der Folge ist das Jahr 2023 von ungewöhnlich heftigen Extremwetterereignissen geprägt. 

Die Forschenden warnen ausdrücklich vor der Vorstellung, dass die bisherige Art des Wirtschaftens quasi die Chance böte, sich aus dem Klimawandel "herauszuwachsen". Entkopplung und technische Innovationen sowie Techniken des Gewinns von GHG aus der Atmosphäre sind ihrer Ansicht nach aus vielerlei Gründen keine verlässlichen Stellhebel.

Sie warnen vor der Illusion, der sich der globale Norden immer noch hingibt; dass das Konsumverhalten der Menschen im Norden nicht verändert werden müsste:

"To achieve socioeconomic justice and universal human well-being, it is crucial to strive for a convergence in per capita resource and energy consumption worldwide. This entails working toward balanced and equitable levels of energy and resource consumption for both the global north and south."

Wie nannte es schon einst Al Gore? "Eine unbequeme Wahrheit". Wann lernen wir Menschen im globalen Norden endlich, dieser Wahrheit ins Auge zu sehen?


Eine unbequeme Wahrheit - reloaded by Johan Rockström et al.

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Kommentare 9
  1. Dominik Lenné
    Dominik Lenné · vor einem Jahr

    Das soziale Weltsystem ist unfassbar komplex. Jeder Mensch lebt und entscheidet in seinem eigenen System von Interaktionen und Subkulturen, beeinflusst durch Medien und Werbung, durch Freunde, Kollegen, Sippe, Tradition, Gewohnheiten, Wertsystem &c pp.
    Was dem Wissenschaftler oder dem Menschen, der/die sich intensiver mit dem Thema befasst als bedrohlich erscheint, ist vielen nur eine kurze Meldung, die im Rauschen der Eindrücke des Tages aufleuchtet und wieder verlischt. Was Leute für sich selbst als "zumutbare Änderung" auffassen ist extrem unterschiedlich. Lagerdenken und Ressentiment werden durch unser biologisches System belohnt, werden also schwer auszurotten sein.
    Rockström ist von der radikaleren Fraktion, macht auf die Ungleichheit aufmerksam.
    Es ist viel zu tun...

    1. Ole Wintermann
      Ole Wintermann · vor einem Jahr

      Diese sog. Tribalisierung erschwert das Vorgehen in einer Staatlichkeit, die Tribalisierung in der Zeit der Staaten-Bildung noch nicht kannte. Wie gehen wir damit um, wenn es keinen Konsens mehr über grundlegende Werte und Normen innerhalb einer Staatlichkeit gibt? Gefährdet dies die Demokratie und die Krisenreaktionsfähigkeit in Zeiten der Klimakrise. Ich befürchte: Ja.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

      @Ole Wintermann Demokratien basieren eigentlich nicht auf Konsens sondern auf Mehrheiten. Der einzig notwendige Konsens besteht in der Einhaltung der Grundregeln (Gewaltenteilung u. Gesetze) sowie in der Anerkennung der Mehrheitsentscheidungen. Mit den Werten ist es m.E.solange wenig schwierig, solange sie sehr allgemein formuliert sind. Über die konkrete Auslegung wird man wohl immer streiten müssen. Die meisten haben wenig gegen das Recht auf Asyl. Aber nur wenige wollen das ohne Kontrolle und mit hohem Mißbrauchspotential. Die Mehrheit will Maßnahmen gegen den Klimawandel. Die Frage hier: wie konkret, über welchen Zeitraum und zu welchem Preis? Demokratien sind ja gerade Systeme, in denen solche Streitpunkte friedlich ausgetragen werden können. In Diktaturen werden solche Konflikte einfach verboten.

    3. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor einem Jahr · bearbeitet vor einem Jahr

      @Ole Wintermann Um es mit Mau zu sagen: "Denn das Ergebnis seiner Studie besagt etwas ganz anderes, als derzeit viele glauben, etwas eigentlich Erfreuliches: Die Bundesrepublik ist ein ziemlich einiges Land. Es gibt eine starke, ideologiefreie Mitte. In vielen gesellschaftlichen und politischen Fragen ticken die Menschen hier ähnlich, und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Wohnort, Schulabschluss oder Gehalt. Gibt es Konflikte? Ja. Wut? Jede Menge. Aber spaltet sich das Land darüber? Nein, das trifft nicht zu." …..

      "Die Einigkeit ist zum Teil enorm: 75 Prozent der Deutschen sind sehr besorgt über den Klimawandel. 79 Prozent halten die Vermögensungleichheit für zu groß. 84 Prozent finden, Transpersonen sollten als normal anerkannt werden. Beim Thema Migration ist die Sache weniger eindeutig, aber doch werten 61 Prozent sie als Bereicherung für das kulturelle Leben. Anders ausgedrückt: Fast zwei von drei Deutschen begreifen die Republik als Einwanderungsland und finden das auch irgendwie gut.

      "Der Streit verläuft oftmals nicht zwischen Ja und Nein, sondern zwischen ‘Ja, aber’ und ‘Nein, aber’", sagt Mau. Im Fall Migration heißt das: Praktisch niemand im Land will unbegrenzte Zuwanderung – das rechtspopulistische Feindbild eines Lagers, das offene Grenzen für alle fordert, ist bloß eine Fiktion. Und auch der Wunsch nach einem kompletten Zuwanderungsstopp ist nur eine randständige Minderheitenposition."
      https://www.zeit.de/20...

      Was offensichtlich falsch läuft und den Eindruck der Spaltung verstärkt sind wohl viele erbitterte Diskurse in den Medien und unter Politikern.

  2. Michael Praschma
    Michael Praschma · vor einem Jahr

    Die beunruhigendste der medial verbreiteten Narrative, die vorgeblich Zuversicht wecken wollen, ohne die Gefahren der Klimakrise zu negieren, finde ich diese: Die Entwicklung und Nutzung regenerativer Energiequellen habe einen Kipppunkt erreicht, sodass deren Zunahme quasi ohne weiteren künstlichen Anschub klimarettend würde – als käme es nicht allein darauf an, wie schnell der Ausstoß von Klimagasen aufhört.

    1. Ole Wintermann
      Ole Wintermann · vor einem Jahr

      Ja, das stimmt einerseits. Die Gefahr, jetzt "die Füße hochzulegen", besteht angesichts solcher Meldungen sicherlich. Dasselbe gilt natürlich auch für den immer wieder getätigten Hinweis der Libertären auf vermeintliche "Wundertechnik", die uns kurz von der Klimakatastrophe retten würde. Andererseits benötigen wir in der Debatte aber natürlich auch ab und zu Lichtblicke.

  3. Ria Hinken
    Ria Hinken · vor einem Jahr

    Wenn ich mir anschaue, wie Menschen auf jegliche Art von Veränderung reagieren, bezweifle ich, dass es noch eine wirklich gute Lösung geben wird.

  4. Hartmut Bischoff
    Hartmut Bischoff · vor einem Jahr

    Wie reagieren Menschen auf diese Alarmzeichen:
    Wie sie es schon immer taten: Suche dir einen anderen Lebensraum .
    Dumm ist nur, dass dieser bereits besetzt ist und sich die Lebewesen im reichen Norden mit aller Macht gegen den Strom der Klimaflüchtlinge stemmen.
    Was ist die zweite »erlernte« Reaktion auf Umweltveränderungen: Rotte deinen Nachbarn aus.

    1. Ole Wintermann
      Ole Wintermann · vor einem Jahr

      Wollen wir hoffen, dass es eine andere Antwort geben wird. Ich kann in diesem Kontext auch dieses Buch empfehlen, dass auch Laien wie mir eine Vorstellung davon vermittelt, wie die Psyche der Menschen auf die Bedrohung reagieren könnte/reagiert. https://www.beltz.de/f...

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