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Kopf und Körper

Alle krank

Silke Jäger
Freie Medizinjournalistin

Ich lebe in Marburg und schreibe über Gesundheit und Gesundheitspolitik.

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Silke JägerMontag, 30.08.2021

Gesund ist, wer nicht krank ist. Streng genommen sind das aber nur 4,3 Prozent der Menschen, stellt der Autor dieses Textes fest. Zu dieser erschütternden Zahl kommt es, weil unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit so eindimensional ist.

Mit dem Ziel, ein positives Gesundheitsverständnis zu etablieren, definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1946 Gesundheit als einen Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Es geht also nicht nur um objektivierbare Krankheitszustände, sondern auch um das subjektive Erleben eines Menschen. Demnach ist Gesundheit allerdings ein Ideal, das niemand erreichen kann. Denn jede Form von Krankheit, Unwohlsein oder Behinderung gilt als unwillkommene Abweichung vom Ideal. Wer nicht gesund ist, gilt als krank – so, als wären es zwei eindeutige Zustände und dazwischen läge eine klare Grenze.

Gesundheit ist also ein dynamischer Prozess und Krankheit kann ein Teil dieses fließenden Zustands sein.

Wir können zum Beispiel mit einer chronischen Krankheit ein gutes Leben führen und uns gesund fühlen.

Doch mithilfe der klaren Trennung zwischen gesund und krank lassen sich Krankheiten einfacher behandeln und leichter ein System am Laufen halten, das die Aufgabe hat, Krankheit zu bekämpfen. Gesundheit wird so zu einer individuellen Aufgabe.

In dieser individualisierten Vorstellung ist Gesundheit das Ergebnis einer aktiven Entscheidung. Die Vorstellung vermittelt, dass jede*r gesund leben kann, er*sie es nur wollen muss. Das heißt auch: Wer krank ist, ist selber schuld.

Damit lässt sich Gesundheit auch zu einem Produkt machen, das man (ver-)kaufen kann. Aber: Die Möglichkeiten, gesund zu leben sind ungleich verteilt. Es liegt nicht nur an jedem Menschen selbst, wie es ihm geht. Alle Menschen sind Teil eines sozialen Gefüges und ihr Umfeld beeinflusst sie.

Wer in einer lauten Umgebung wohnt, sich Sorgen um Geld, den Mietvertrag oder den Aufenthaltstitel machen muss, Rassismus erlebt oder Angst haben muss, auf der Straße angegriffen zu werden, lebt mit einem permanenten Stress-Hintergrundrauschen. Je ärmer eine Person in Deutschland ist, desto wahrscheinlicher stirbt sie früh. Sie schläft schlechter, ist einsamer, der schlecht bezahlte Job ist körperlich belastender, es fehlt das Geld für gesundes Essen. Menschen ohne oder mit prekärer und schlecht bezahlter Erwerbsarbeit haben ein höheres Risiko, psychische und körperliche Erkrankungen zu entwickeln.

Was wäre, wenn wir Gesundheit nicht länger als individuelle Errungenschaft oder Leistung betrachten, sondern ganz offen mit unseren Krankheiten umgehen, die in bestimmten Situationen eine größere Rolle spielen als in anderen? Denn auch Krankheit ist ein dynamischer Prozess und es kann heilsam sein, immer dann, wenn es hohe Barrieren dafür gibt, offen krank zu sein, die (gefühlten) Einschränkungen abzubauen. Vielleicht würden sich dann mehr Menschen mit einer Krankheit als gesund erleben.

Alle krank

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