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Klima und Wandel

In 75 Jahren: vier Milliarden Menschen auf der Flucht

Nick Reimer
diplomierter Energie- und Umweltverfahrenstechniker, Wirtschaftsjournalist und Bücherschreiber
Zum Kurator'innen-Profil
Nick ReimerDienstag, 23.05.2023

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) befasste sich 2007 mit dem "Sicherheitsrisiko Klimawandel". Heraus kam ein fast 300 Seiten dickes Gutachten. "Ohne entschiedenes Gegensteuern", lautete damals das zentrale Ergebnis, werde der Klimawandel "bereits in den kommenden Jahrzehnten die Anpassungsfähigkeit vieler Gesellschaften überfordern". Die daraus resultierende Gewalt und Destabilisierung werde "die nationale und internationale Sicherheit in einem erheblichen Ausmaß bedrohen". Noch bis 2020, so das Gutachten, gebe es ein "Zeitfenster zur Vermeidung von Klimakonflikten".

OK, 2020 ist vorbei und das Zeitfenster wurde nicht genutzt: Die Emissionen erreichten 2022 weltweit 36,6 Milliarden Tonnen - ein neuer Rekord. Und es ist ja nicht so, dass die Treibhausgase der Jahre 2021, 2020, 2019 ... irgendwo verschwunden wären: Sie wirken bereits jetzt. Treibhausgase haben in der Atmosphäre eine sehr lange Lebensdauer, durch den Menschen verursachtes Kohlendioxid wird durch die natürlichen physikalischen und biogeochemischen Prozesse im Erdsystem beispielsweise nur sehr langsam abgebaut. Nach eintausend Jahren sind davon immer noch etwa 15 bis 40 Prozent in der ⁠Atmosphäre⁠ übrig.

Als "menschliche Nische" gilt jener Bereich, in dem Menschen einem normalen, produktiven Leben nachgehen können. Die Wissenschaft definiert diese auf eine lokale Jahresmitteltemperatur unter 29 Grad Celsius. Mehr als 29 Grad im Durchschnitt – das gibt es derzeit nur auf 0,8 Prozent der weltweiten Landfläche, vor allem in der Sahara. Im Jahr 1980 waren es weltweit lediglich 0,3 Prozent.

Bei ungebremstem Klimawandel jedoch dehnen sich solche Gebiete in den kommenden 50 Jahren auf rund 19 Prozent aus. Ein Gürtel "nahezu unbewohnbarer" Region zöge sich dann entlang des Äquators: Betroffen wären Teile Mittelamerikas, fast das komplette Amazonas-Becken, ein Streifen durchs nördliche Afrika mit bevölkerungsreichen Staaten wie Nigeria, Ägypten und Äthiopien sowie weite Teile der arabischen Halbinsel, Pakistans und Indiens bis nach Thailand, Indonesien und den Norden Australiens. Bis etwa 2070 würde damit die Heimat von rund 3,5 Milliarden Menschen aus der "klimatischen Nische" rutschen.

Eine neue Studie kommt nun zu dem Schluss, dass Ende des Jahrhunderts rund vier Milliarden Menschen nicht mehr so leben und wirtschaften können, wie wir es kennen: Der Klimawandel vertreibt sie aus der menschlichen Nische. Mit anderen Worten: Sie müssen fliehen.

In 75 Jahren: vier Milliarden Menschen auf der Flucht

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Kommentare 9
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Was der Verbleib des CO2 in der Atmosphäre und die Langfristwirkung betrifft fand ich dem Hinweis von Michael Mann ganz interessant. Auch wenn er die Chancen für eine globale Reduktion im erforderlichen Maße nicht sehr optimistisch sieht.

    "Until recently, Mann explained in The Guardian, scientists believed the climate system—a catch-all term for the interaction among the Earth’s atmosphere, oceans, and other parts of the biosphere—carried a long lag effect. This lag effect was mainly a function of carbon dioxide remaining in the atmosphere and trapping heat for many decades after being emitted. So, even if humanity halted all CO2 emissions overnight, average global temperatures would continue to rise for 25 to 30 years, while also driving more intense heat waves, droughts, and other climate impacts. Halting emissions will take at least twenty years, under the best of circumstances, and so humanity was likely locked in to at least 50 more years of rising temperatures and impacts.
    Research over the past ten years, however, has revised this vision of the climate system. Scientists used to “treat carbon dioxide in the atmosphere as if it was a simple control knob that you turn up” and temperatures climb accordingly, “but in the real world we now know that’s not what happens,” Mann said. Instead, if humans “stop emitting carbon right now … the oceans start to take up carbon more rapidly.” The actual lag effect between halting CO2 emissions and halting temperature rise, then, is not 25 to 30 years but, per Mann, “more like three to five years.”
    In short, this game-changing new scientific understanding suggests that humanity can turn down the heat almost immediately by slashing heat-trapping emissions. “Our destiny is determined by our behavior,” said Mann, who finds that information “empowering.”
    Of course, this glimmer of hope is only empowering if humans—especially those with governmental and policy-making positions—actually act. Mann has said before, and he reiterated in The Guardian interview, that a second presidential term for Trump would be “game over” for the climate. That’s not Mann’s partisan judgement, he insisted. It’s straightforward math.
    To prevent a catastrophic rise in global temperature, humanity must cut emissions in half by 2030, Mann said, citing 2018’s landmark report by the UN’s Intergovernmental Panel on Climate Change. That will require a rate of change “unprecedented” in human history, according to the IPCC scientists: emissions had to fall by 5 percent year after year. But if a re-elected Trump spent an additional four years pushing the world’s biggest economy in the opposite direction, hitting the 2030 target would become “essentially impossible,” Mann said. If emissions don’t begin falling until 2025, they would have to decline by roughly 15 percent every year over the following five years. “That may be, although not physically impossible, societally impossible,” Mann said. “It just may not be economically possible or socially viable to do it that [fast].” …."

    https://www.cjr.org/co...

  2. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr

    Ich verstehe die Berechnung nicht ganz? Die 2,7 Grad Steigerung der globalen Mitteltemperatur verteilt sich doch nicht gleich über die Welt. Um den Äquator steigen die Temperaturen weniger, auf den Halbkugeln mehr? Also werden wohl um den Äquator gar nicht so viele Gebiete verloren gehen und in Richtung der Pole wird das Klima wärmer und Siedlungsgebiete frei. Oder irre ich mich?

    1. René Walter
      René Walter · vor mehr als ein Jahr

      Die weniger steigenden Temperaturen am Äquator sorgen nur dafür, dass eine *kaum bewohnbare* Gegend nunmehr schlichtweg *nicht bewohnbar* wird, und die Wirkung auf angrenzende Regionen, die ohnehin bereits am stärksten durch Flüchtlingsströme belastet sind, ist verheerend. Das darin liegende Konfliktpotenzial kann man sich dann selbst ausrechnen, was genau diese Tendenzen weiter verstärkt.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @René Walter Das Problem ist doch auch und eigentlich, dass in diesen schon immer kaum bewohnbaren Gebieten eine Bevölkerungsexplosion stattgefunden hat, noch stattfindet. Die Sahelzone etwa war nie für viele Menschen und ihre Herden "geeignet".

  3. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

    Es muss sich etwas tun.

    Aber gab es schon einmal ein Beispiel, dass eine Modellierung über einen längeren Zeitraum auch so eintraf?

    Keine der verlinkten Studien lässt den Schluss zu, dass in 75 Jahren 4 Milliarden auf der Flucht sind.

    1. Nick Reimer
      Nick Reimer · vor mehr als ein Jahr

      Hier ein Link:

      https://www.pik-potsda...

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @Nick Reimer Die Nachrichten vom PIK bekomme ich auch; weder im Link noch in anderen Newslettern wird von 4 Milliarden auf der Flucht geschrieben.

      Auf den ersten Einwand sind sie gar nicht eingegangen.

    3. René Walter
      René Walter · vor mehr als ein Jahr · bearbeitet vor mehr als ein Jahr

      @Achim Engelberg Die vier Millarden ergeben sich, und ich mutmaße hier, anscheined auf einer Projektion der globalen Bevölkerungsentwicklung (12 Mrd bis Ende des Jahrhunderts) und den in der oben verlinkten Studie bezifferten Flüchtlingsanteil von einem Drittel: Vier Millarden. Ich weiß nicht, ob das seriös ist, aber auch eine Millarde Klimaflüchtlinge ist ein Desaster bislang unbekannten Ausmaßes, von daher nehme ich diese journalistische Simplifizierung einfach mal hin.

    4. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor mehr als ein Jahr

      @René Walter Nein, dieser piq ist nicht seriös.

      Regelmäßig moderiere ich Veranstaltungen mit führenden Migrationsforschern. In Kürze wieder rund um den Weltflüchtlingstag am 20. Juni, wo stets neue Zahlen und Interpretationen publiziert werden.

      Deshalb kenne ich etwas die Spannbreite wie diese rechnen. So wie in diesem piq geschieht es jedenfalls nicht.

      Freilich, im Journalismus muss vereinfacht werden, aber wie es hier geschieht, ist es eigentlich nur bei BILD & Co üblich. Möglicherweise hätte BILD noch ein Fragezeichen gesetzt.

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