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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
Ich lag da und rührte mich nicht. "Steh auf jetzt!", sagt Papa noch einmal. Er fing an, mich zu treten. Die metallenen Schnallen an seinen Slippern schmerzten wie Stiche von riesigen Moskitos. Er schrie ohne Unterlass, völlig außer Kontrolle, in einer Mischung aus Igbo und Englisch, wie weiches Fleisch und spitze Knochen. Über Gottlosigkeit, heidnische Rituale. Höllenfeuer.
Für meinen nächsten Lesezirkeltermin Ende Januar habe ich gerade Teju Coles Jeder Tag gehört dem Dieb noch einmal gelesen. Das erste Mal liegt einige Jahre zurück, erstaunlich, wie unterschiedlich ich die Lektüre wahrnehme. Die 2007 auf Englisch erschienenen Blogeinträge (2015 auf Deutsch) des 1975 in Nigeria geborenen Kunsthistorikers, Schriftstellers und Fotografen berühren mich jetzt neu und anders.
Das Treten wurde immer schneller, und ich dachte an Amakas Musik, an die Musik mit kulturellem Bewusstsein, die manchmal mit einer ruhigen Saxophon-Passage begann und sich dann in einem wildem Wirbel aus lustvollem Gesang steigerte. Ich rollte mich fester zusammen, um die Überreste des Bildes herum, sie waren ganz weich, wie Federn.
Teju Cole reist nach Nigeria, besucht Verwandte, trifft alte Freunde und schaut sich um. Der Blick auf seine Heimat ist zwiespältig, er fragt sich angesichts der vielen gravierenden Missstände, ob er die Toleranz aufbringen könnte, die in diesem Land nötig ist? Ob er mit der Wut umgehen könnte, die Nigeria in ihm auslöst, und mit den vielen Konflikten, die einen Humanisten wie ihn an diesem Ort erwarten. Und wie wütend Teju Cole werden kann. Wütend über Straßenräuber, E-Mail-Vorkasse-Betrüger, Stromausfälle, Fake-Polizisten und das erbarmungswürdige Nationalmuseum, in welchem er wenigstens ein paar der kostbaren Bronzen erwartet hatte, die in Wahrheit über die Museen der ersten Welt verteilt sind.
Jetzt waren die Moskitostiche wie scharfe böse Schnitte, denn das Metall der Schnallen traf auf offenes Fleisch an meiner Seite, meinem Rücken, meinen Beinen. Ein Tritt. Und noch einer.
Ich wandere mit Teju Cole über die Märkte, die staubigen Straßen, sehe die Farben, höre das Stimmengewirr, spüre die Hitze – obwohl ich noch nie in Nigeria war. Aber, und da fallen sie auch schon, ich bin dem Land in Büchern begegnet; Cole nennt Namen: Ken Saro-Wiwa, den indigenen, hingerichteten Schriftsteller und Bürgerrechtler (dessen Anti-Kriegsroman Sozaboy ich neulich wiederstrebend lieben lernte) und die inzwischen weltbekannte Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Das Debüt der 1977 in Nigeria geborenen und kaum volljährig (wie Teju Cole) in die Vereinigten Staaten übergesiedelten Autorin und Feministin (in unserem piqd-Archiv finden sich dazu viele Artikel) fiel mir kürzlich in die Hände – und ich war schockiert.
Vielleicht schlug er mich jetzt auch mit dem Gürtel, weil die Schnalle schwerer geworden zu sein schien. Weil ich sie durch die Luft sausen hörte. Eine Stimme sagte leise: "Bitte, biko, bitte." Mehr Stiche. Mehr Schläge. Eine salzige Wärme schoss mir in den Mund. Ich schloss die Augen und glitt in die Stille hinüber.
335 Seiten umfasst die Taschenbuchausgabe (6. Auflage 2020) des Blauen Hibiskus, die mich verstört zurückließ. Es ist eine Qual, dieses Buch zu lesen! Selten habe ich bei einer Lektüre eine solche Wut, gar Mordgelüste entwickelt. Die 15-jährige Ich-Erzählerin Kambili berichtet über einige Monate ihres Lebens im Nigeria der Unruhen und des Umbruchs, mit einem Zeitsprung von einigen Jahren im letzten Abschnitt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ihr Vater, der grausame Patriarch und strenggläubige Katholik Eugene (hier gibt es eine gute Inhaltsbeschreibung), welcher äußerst brutal seine Frau und zwei Kinder tyrannisiert und misshandelt. Unerträglich wäre das Buch, welches detailliert diese Torturen schildert, wenn nicht Tante Ifeoma die Geschwister aus dem Alptraum entführen und allmählich sozialisieren würde.
Chimamanda Ngozi Adichie wurde international bereits mit ihrem Debüt-Roman berühmt und ausgezeichnet, in Deutschland sollte ihr erst ihr Roman Americanah (2014) den Durchbruch bringen und bewirken, dass Blauer Hibiskus (2005) mit Preisen geehrt und verstärkt wahrgenommen wurde. Ihre Übersetzerin Judith Schwaab berichtete anlässlich der Preisverleihung mit dem Internationalen Hermann-Hesse-Preis 2020 über die Auswahl des Roman-Titels (im Original Purple Hibiscus), ihre Arbeit an dem Buch und was sie daran begeistert.
Ich habe erst eine versöhnliche Haltung zum Blauen Hibiskus gefunden, als ich Teju Cole las. In seine Betrachtungen zu Wirtschaft, Kunst und Religion eintauchte. Die literarische Überhöhung im Abgleich mit der Gegenwart an-erkannte. Fanatische Religion jeder Art ist mir ein Graus. Cole stellt als einen Fakt der Gemengelage fest, dass in Nigeria militante Christen auf dem Vormarsch sind, der Islam sich radikalisiert und der Glaube an Magie und die Kräfte des Bösen noch immer weit verbreitet ist. Und postuliert weiter:
Nigerias Realitätsverlust lässt sich wunderbar anhand von drei Meldungen ablesen, die kürzlich in den Weltmedien über das Land kursierten. Nigeria wurde zum religiösesten Land der Welt erklärt. Außerdem fand man heraus, dass die Nigerianer die glücklichsten Menschen sind, und laut Transparancy International ist Nigeria 2005 das drittkorrupteste von 159 Ländern. Religion, Korruption, Glück. Wenn alle so glücklich sind, warum kümmert man sich dann so wenig um die Menschenrechte und ein ethnisches Zusammenleben? Und wenn alle so glücklich sind, warum dann dieser Überdruss und dieses unterdrückte Leiden? Fela Kutis prophetischer Song "Shuffering and Shmiling" bringt es noch immer auf den Punkt. [...] Es ist falsch, unglücklich zu sein. Und es gibt keinen Grund, sich in Details zu verlieren. Was zählt, ist die prinzipielle Idee.
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