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Literatur

Die Circle-Zombies kommen

Die Circle-Zombies kommen

Jan Brandt
Schriftsteller

Geboren 1974 in Leer (Ostfriesland), veröffentlichte 2011 den Roman "Gegen die Welt" und 2015 den Reisebericht "Tod in Turin". 2016 erscheint "Stadt ohne Engel – Wahre Geschichten aus Los Angeles".

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Jan BrandtDienstag, 17.05.2016

Es war das Buch des Sommers 2014, jedenfalls in Deutschland, als die deutsche Übersetzung erschien; Dave Eggers dystopischer Roman The Circle. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmete dieser düsteren und gar nicht so fernen Zukunftsvision ein ganzes Feuilleton, um einige innertextliche und außertextliche Aspekte des Romans zu beleuchten: Selbstnormierung, Selbstvermarktung, Selbstausbeutung. Stadtraum als Produkt. Seele als Ware. Verfall und Ende des privaten Lebens.

In dem Roman geht es um eine Firma namens The Circle, bei der alles zusammenläuft, was heute noch getrennt ist: Facebook, Google, Twitter, Instagram, Snapchat, etc. Alle digitalen Kommunikationsmedien und Suchmaschinen in einem Unternehmen gebündelt. Was für eine Macht! Was für ein Einfluss! Und das Beste ist: Die Anonymität im Netz ist abgeschafft, jeder tritt mit seinem richtigen Namen auf. Das Ideal, der gläserne Mensch, die Vollendung des Wissens, ist zum Greifen nahe. Es gibt keine Geheimnisse mehr und – so die Logik dahinter – auch keine Kriminalität.

Zu der Zeit, als das Buch in Deutschland veröffentlicht wurde, wohnte ich in Los Angeles und die FAZ-Redakteure schickten mich zur Google-Zentrale nach Venice Beach, die, es könnte nicht passender sein, im Binoculars Buildung untergebracht ist – ein Gebäude, das zwar schon in den Achtzigern errichtet wurde, aber durch das gigantische Fernglas, das das Eingangsportal bildet, wie für Google gemacht wirkt. Google, das uns dank unserer Suchanfragen, zum Teil besser kennt als unsere besten Freunde, könnte reales Vorbild für den Circle sein. Werden wir doch bei dem, was wir digital tun, permanent von Google beobachtet. Ich sollte, so lautete die Ansage, zurück beobachten.

Und das tat ich. Ich kam zwar nicht ins Büro hinein, schaute mich aber in der Umgebung um, besuchte die nahegelegene Full Circle Church und die Bar The Circle – die beide, wie sich herausstellte, nichts mit Dave Eggers’ Roman zu tun hatten. Trotzdem kam es mir bald vor, als würde ich in einer Parallelwelt leben, in diesem verrückten Roman, in dem überall SeeChange-Kameras stehen, Minikameras, fürs bloße Auge kaum sichtbar, jede Bewegung wird aufgezeichnet und in Echtzeit ins Internet gestreamt. Allein die Vorstellung triggerte meine Paranoia. Und am Ende der Recherche konnte ich Fiktion und Wirklichkeit kaum noch auseinanderhalten.

Jetzt, fast zwei Jahre später, habe ich The Circle noch einmal gelesen. Die Geschichte der jungen Mae Holland, die erst bei einem Strom- und Gaswerk arbeitet und dann von einer Freundin zum „beliebtesten Unternehmen der Welt“ gelotst wird: The Circle. „Die Vorhalle war so lang wie ein Exerzierplatz, so hoch wie eine Kathedrale. Oben waren überall Büros, vier Etagen auf beiden Seiten, jede Wand aus Glas.“ Es ist ein Mikrokosmos, der die Zukunft verkörpert. Die größten säkularen Mächte der Vergangenheit, das Militär und die Kirche, sind in dieser kurzen Beschreibung vereinigt, und über allem thront die neue Supermacht: die Sichtbarkeit. Mae Holland fängt in der Customer Experience an, auf ihrem Schreibtisch wird ein Bildschirm nach dem anderen aufgestellt, ständig beantwortet sie Fragen von Kunden, Freunden, Kollegen, zu ihrem Konsumverhalten, ihrem Leben. Irgendwann hängt sie sich eine Kamera um den Hals, um ihren Alltag für alle zu dokumentieren, und wird zu einer globalen Ikone der Transparenz. Anfangs profitiert auch ihr Umfeld von ihrem Status: Der Vater, der an MS leidet, erhält kostenlos die optimale medizinische Versorgung, der Exfreund Aufträge für sein Unternehmen. Doch bald wenden sich die Nächsten von ihr ab, weil der Preis für die Annehmlichkeiten darin besteht, es ihr gleich zu tun.

In den USA wurde der Roman bei seinem Erscheinen mit George Orwells 1984 oder Aldous Huxleys Brave New World verglichen, aber The Circle lässt nicht nur jede visionäre Kraft vermissen, es ist auch von Figuren bevölkert, deren Persönlichkeitsentwicklung vollkommen unplausibel ist. Mae, die erst noch im Kajak Momente der Einsamkeit sucht und stille Stunden in der Bucht von San Francisco verbringt, scheint diese Erfahrung im Verlauf der Handlung überhaupt nicht zu vermissen; dass sich die Eltern von ihr abwenden, ist ihr unerklärlich; dass sie für den Tod ihres Exfreundes verantwortlich ist, kommt ihr, obwohl sein Selbstmord aufgrund ihrer Initiative erfolgt, nicht in den Sinn. Der Stress, dem sie beruflich ausgesetzt ist, führt nicht wie bei anderen um sie herum zum Zusammenbruch, im Gegenteil: je mehr sie macht, desto mehr Energie hat sie, sich auf Neues zu konzentrieren. Ihre charakterliche Schlichtheit hat etwas Unmenschliches, Roboterhaftes, daher wirken ihre wütenden, erlebten Reden auch so falsch, sie wollen einfach nicht zum sachlichen Ton des Textes passen: „Maes Kopf hallte wieder vor Selbstanklagen. Sie hasste sich selbst. Wieso hatte sie das bloß getan, ihren Job riskiert? Ihre beste Freundin in eine peinliche Lage gebracht? Die Krankenversicherung ihres Vaters gefährdet? Sie war ein Schwachkopf, ja, war sie vielleicht sogar schizophren?“

Und diejenigen, die eine starke Gegenbewegung zum kollektiven Wahnsinn des Circle bilden könnten, wie etwa einer der Mitbegründer des Circles, bleiben seltsam blass und machtlos. Das ist das eigentliche Problem: die Konstruktion. Es gibt kein Gegenüber, nichts an dem sich Mae reiben, beweisen und entwickeln könnte, niemand, der sie herausfordert. The Circle ist ein Thesenroman, voller Ideen, die anhand von Figuren durchgespielt werden, aber niemand in diesem Buch hat ein Eigenleben, weil Dave Eggers die Kontrolle nicht abgibt. Womöglich ist das die Botschaft des Romans: dass wir alle irgendwann zu Circle-Zombies werden, Menschmaschinen ohne Individualität, Tiefe und Geheimnis.

Dave Eggers: Der Circle. Taschenbuch, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 10,99 Euro.

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