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Literatur

Mein kleiner Buchladen: „fiktive Künstlerbiografien“ – Der Augentäuscher

Quelle: privat

Mein kleiner Buchladen: „fiktive Künstlerbiografien“ – Der Augentäuscher

Anne Hahn
Autorin und Subkulturforscherin
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Anne HahnDonnerstag, 25.07.2019

Was reden Sie von unbekannten Kontinenten, was reden Sie denn da von einem Amerika? Amerika, da haben Sie Recht, gibt es nicht, und ich bitte Sie: Bleiben Sie. Bin ich Ihnen denn nicht ein ausreichend fremder Kontinent?

Früh hat mich Malerei fasziniert, mein Vater schleppte mich in alle wichtigen Ausstellungen, die es in Leipzig, Dresden oder Berlin zu sehen gab. Später fuhr ich selbst zur Kunstausstellung nach Dresden und las. Ich begriff es wie eine Entscheidung, Literatur und Kunst oder Literatur und Musik, ich wählte ersteres. Unzugänglich bleiben mir bis heute Klaus Manns Tschaikowski-Roman „Symphonie Pathétique“, Thomas Manns „Doktor Faustus“ oder Helmut Kraussers „Melodien“ und „Alles ist gut“.

Ich liebe es hingegen, wie Elias Canetti in seinen Lebenserinnerungen die Jahre der Arbeit an „Masse und Macht“ ausmalt. In seinem kargen Wiener Zimmer hingen schwarz/weiß Reproduktionen des Isenheimer Altars, welchen er in Colmar besucht hatte. Mit Grünewalds drastischen Szenen im Blut sah er aus dem Fenster auf den Garten der städtischen Irrenanstalt. Das ist mir nah, wie mich das Schreiben von FotografInnen und MalerInnen besonders berührt.

Was ist, wenn ein Autor seinen Künstler erfindet? Vor einigen Tagen stieß ich auf ein Gespräch zwischen dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich und dem Autor Peter Truschner, letzterer zitiert zur Rolle des isländischen Künstlers Olafur Eliasson als weltweit vernetzten Kommunikator einen Satz Georg Seeßlens;

"Nie haben Künstler*innen in einer Gesellschaft so viel Frei- und Spielräume gehabt wie in unserer, und noch nie haben sie als Berufsstand ein so jämmerliches Bild abgegeben."

Jämmerlich? Haben sich Künstler nicht immer in gewissem Grade anbiedern müssen? Und schon dachte ich an Silvius Schwarz, den Stilllebenmaler und Augentäuscher Matthias Gatzas. In seiner fiktiven Künstlerbiografie spielt Gatza mit der gesamten Farbpalette der Literatur. Dieser 2012 erschienene Gegenwarts-Krimi im Barockgewand schillert pastell bis nachtschwarz. Drei Ebenen und mindestens drei Sprachstile entblättern die Geschichte um den Maler Silvius Schwarz, welcher geköpft und dessen Existenz nachträglich getilgt wurde.

Nichts weniger als das Bild des Barock wolle der Verfasser, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt verändern! Der namenlos bleibende ewige Kunstgeschichtsstudent erforscht in der Rahmenhandlung das Leben des Barockmalers Silvius Schwarz, von dessen Existenz er zunehmend überzeugt ist. Auch davon, dass sein Idol den ersten Fotoapparat erfunden hat. Die Beschreibung seiner Jahre währenden Spurensuche nach Artefakten und Zeugnissen ist ein Schelmenroman an sich, noch überhöht durch die von ihm aufgefundenen Druckbögen eines stummen Setzers, der im November 1673 in sechs Nächten das Leben des Malers Silvius Schwarz nieder-setzte und den stilistisch wiederum gänzlich abweichenden skurrilen Briefroman, der die Korrespondenz zwischen Sophie von Schlosser und dem soeben aus Amsterdam zurückgekehrten Maler Schwarz wiedergibt. Während nur eines halben Jahres in diesem 1673 kulminiert der Roman und das aufregende Leben des S. Schwarz. Wir springen munter mit dem Autor durch die Jahreszeiten und Jahrhunderte, lernen einiges über Optik und Stillleben, den sächsischen Hof, arbeitslose Kunsthistoriker und die Vergänglichkeit.

Höchst genussvoll und intelligent entführt Mathias Gatza den Leser in seine Welten, mit grundverschiedenen Tempi und Temperamenten. Herrlich die ausschweifenden Briefe des Malers, die anzüglichen des jungen Mädchens! Die Andeutungen und Zweideutigkeiten, das Universale in Lernen, Frage und Staunen!

Ich dachte, ich sei tot. Ich sah ein himmlisches Stillleben, ein ockerrot leuchtender Granatapfel hing an einer Bastschnur in einer Fensteröffnung, die in einen schwarzen Raum führte. Ich kannte das Bild von Sánchez Cotán, hatte es mehrfach kopiert. Warum nur die Kopie am Ende des Lebens, ist auch der Tod eine weitere Kopie? Ich hörte den Knall, höre ihn immer noch, sah die Bleikugel mit einem knisternden Zischen von rechts in das Bild fliegen, in einer unerhörten Verlangsamung durchschlug sie, einem beispiellosen gestreckten Moment lang, die Schale und riss den Granat von innen auseinander, rote Spritzer, es brauchte Ewigkeiten, bis sie den Fensterpfosten erreichte. Die Schnur schwang, von ihrer Last befreit, mit gesuchter Langsamkeit, wie der Strick eines Gehenkten in einer leichten Brise.

Gatza gelingt es tatsächlich, das Anhalten der Zeit, ihr Zusammenziehen zu erzählen. Einen Moment gerinnen zu lassen. Zwei junge Menschen, die sich lieben, ohne sich einzuengen, die gierig sind. Nach Wissen, Lachen und Lust. Wie viel moderner erscheinen die Figuren des Barocks als Gatzas heutiges Ensemble angestaubter Langweiler. Führte der späte Debütant und doch betriebsweise Gatza in seinem Erstling „Der Schatten der Tiere“ seine Leser amüsant über vereiste Geschichtenstränge, dürfen wir hier wie in einem Computerspiel in rasender Geschwindigkeit durch gläserne Paläste schlittern, fallen, fliegen. Mit den Gedanken der verrückt gescheiten Liebenden auf Reisen.

Aus einem Sommerbrief der darbenden Sophie sei zum Schluss zitiert, die um ihren Körper wirbt wie um einen unbekannten Kontinent:

„Abstraktionen führen in der Liebe zu nichts. Ist es denn so schwer, fällt Ihnen denn ein Floh aus der Perücke, wenn Sie mich nur ein klein wenig mehr küssten, geht Ihnen das gegen den Strich, finden Sie Küssen blöd, oder was?“


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