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Anne Hahn, in Magdeburg geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Studium der Kunstgeschichte/Geschichte in Berlin und Florenz. Seit 1999 Porträts, Reportagen und Rezensionen in verschiedenen Medien. Buchveröffentlichungen u.a.: "Satan, kannst du mir nochmal verzeihn - Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest" (mit Frank Willmann) Ventil Verlag 2008, "Pogo im Bratwurstland: Punk in Thüringen" LzfpB, 2009, „DreiTagebuch“ Roman, „Gegenüber von China“ Roman, beide Ventil Verlag, 2014, "Das Herz des Aals", Roman, Ventil Verlag 2017, "Mitten drin - Fußballfans in Deutschland" BfpB, 2018, "Vereint im Stolz - Fußball, Nation und Identität im postjugoslawischen Raum", BfpB 2021
„kein wort soll mehr von aufbau sein/ kein wort mehr von arbeit und altersrente/ hört weg – ihr helden – ich rede allein/ für asoziale elemente“
Das ist das erste Gedicht, welches Annett Gröschner gestern Abend zitiert. Im ACUD in Berlin Mitte, gleich um die Ecke der Ackerstraße 156, wo Christa Reinig aufwuchs. Die Dead Ladys Show widmet sich alle zwei Monate spannenden verstorbenen Frauen der Kunst-und Kulturgeschichte. Zwischen zwei englischsprachigen Vorträgen war es Christa Reinig, die uns in Wort und Bild nahe gebracht wurde. Niemand eignet sich besser für die Erforschung und Vermittlung literarischer Sonderlinge als Annett Gröschner. Sie liebt Archive und fischt aus den staubigsten Nachlässen die lebendigsten Bezüge heraus. Behutsam und radikal zugleich. Als sie im Magdeburg der 80er Jahre Gedichte schrieb, erzählt sie, waren ihre Heldinnen bereits gestorben, hatten sich umgebracht wie Inge Müller und Sylvia Plath oder waren unter unklaren Umständen gestorben, wie Ingeborg Bachmann. Christa Reinig lebte noch, aber ihre Gedichte lagen in der DDR im „Giftschrank“. Ein Fischer-Taschenbuch von 1963 enthält dieses – die Stimme Christa Reinigs ertönt: „- ich rede allein für asoziale Elemente … ich rede wie die irren reden/ für mich allein und für die andern blinden/ für alle die in diesem leben/ nicht mehr nach hause finden.“
Das 1926 geborene „Kellerkind“ Christa Reinig stromert rechts und links der Oranienburger Straße entlang, wäre lieber ein Junge gewesen, ein Seemann geworden. Erlebt die Bombardierung der Stadt, lernt Steno und Schreibmaschine, räumt Trümmer weg, studiert Kunstgeschichte und Archäologie, arbeitet im Märkischen Museum. Schreibt die „Ballade vom blutigen Bomme“ über einen, der nicht rechnen konnte – aber einbrechen im 5. Stock, von außen. Bezeichnet Bomme, den Räuber, als ihren Freund. Lebt eine Zeit lang in zwei Welten, Ost und West. Schreibt Gedichte, gewinnt Preise und entscheidet sich, 1964 zieht sie rüber, lässt ein Röntgenbild ihrer Wirbelsäule auf dem Schreibtisch im Museum zurück und wird eine begehrte Autorin …
Ich bleibe aber am Wort „Jannowitzbrücke“ hängen. Ein Ost-Berliner Abend mit Günter Bruno Fuchs und Johannes Bobrowski, Christa Reinig trinkt beide „unter den Teppich“, sie lachen stundenlang über die Jannowitzbrücke. Meine Gedanken driften ab, während ich mit knapp einhundert Frauen und einer Handvoll Männer dem Vortrag lausche. Vielleicht war es die Ballade vom blutigen Bomme, welche Annett Gröschner ursprünglich auf die Gladow-Bande brachte? Das Kindergesicht Gladows taucht vor meinem inneren Auge auf. Und das Fallbeil. Zack, da ist eine Wirbelsäule. Die Idee mit dem Röntgenbild ist genial!
Der Vortrag ist fortgeschritten und die Reinig über Christentum und Buddhismus schon bei der Astrologie gelandet. Annett Gröschner hat 40 Notizbücher ihres Nachlasses in Marburg gesichtet, zeigt Horoskope, erzählt von Krankheiten. Bechterew, Treppensturz, Frührente. Dazu Verrisse, Häme, Verunglimpfungen. Romane, Feminismus, Lebensgefährtin. Die „Entmannung“ – die Verbannung. Die männlich dominierte Literaturkritik lässt sie fallen. Christa Reinig wendet sich vom Feminismus ab, lebt bis 2008 einsam, krank und vergessen in München, wird anonym in der Fremde bestattet. „Verscharrt“, sagt Annett Gröschner bitter und beschreibt die Grabstelle mit Reihennummer, als sollten wir morgen, heute losgehen, Christa Reinig ausgraben und bergen, nach Berlin heimholen.
Nachdenklich schließe ich heute meinen Laden auf, den schon wieder winterliche Kälte bewohnt. Auf dem Weg zum Schreibtisch im hinteren Raum streife ich das Belletristik-Regal, M bis R, und dort, ganz unten neben Brigitte Reimann und Erich Maria Remarque steht seit sieben Jahren die Erstausgabe der „Frau im Brunnen“ - ein Roman. Ein blaues Taschenbuch der Frauenoffensive von 1984. Im Vorsatz ein zarter Schriftzug, Füllfederhalter, blau: „Christa Reinig“
Und es beginnt:
Ich spreche häufig mit der Frau im Brunnen. Es gibt einfache Fragen im Vorübergehen, wie sie da hineingeraten ist und warum sie nicht wieder herauskommt. Auf diese Fragen gibt sie keine Antwort. Labyrinthisch wird das Gespräch, wenn ich frage, ob sie da freiwillig ist...
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