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Zeit und Geschichte

Der Zeitenbruch von 2022 im Spiegel der Geschichte

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMittwoch, 14.08.2024
In friedensbewegten Kreisen und innerhalb der „antiimperialistischen“ Linken wird seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24.02.2022 immer wieder dessen „Vorgeschichte“ bemüht, um die russische Seite moralisch zu entlasten und dem Westen (USA, NATO und EU) zumindest eine Mitschuld an diesem Ereignis zuzuweisen. Dabei ist dieser Hinweis trivial. Denn alle Kriege verfügen über eine „Vorgeschichte“, weil sie in langfristige historische Prozesse eingebunden sind, die ihre Entstehung und ihren Verlauf erklären.

So der Historiker Friedhelm Grützner in seiner Studie, in der er den Zusammenbruch der europäischen Friedensordnung von 1919/20 vergleicht mit dem Zeitenbruch von 2022 nach der extremen Ausweitung des Krieges in und um die Ukraine durch einen direkten Angriff durch russländische Truppen. Ich schreibe russländische Truppen, weil viele Soldaten aus ethnischen Minderheiten als Kanonenfutter benutzt werden.

Vorgeschichten, eine stelle ich in diesem Pick am Beispiel der NATO dar, sind nicht die Geschichten, die durch Entscheidungen von Politikern, Wirtschaftsbossen und Militärs getroffen werden.

Weder der deutsche Reichskanzler Bethmann Hollweg im Juli 1914 noch Hitler im August 1939 oder Putin im Februar 2022 waren durch eine „höhere“ Macht oder in einer akuten Notwehrsituation dazu gezwungen, den Krieg zu beginnen.

Alle drei waren in ihrer Entscheidung frei, dies zu tun oder es zu lassen. Hinweise auf die „Vorgeschichten“ – so berechtigt sich die Geschichtswissenschaft ihrer annimmt – besitzen keine Entlastungsfunktion für die verantwortlich handelnden Akteure.

Es ist schon verblüffend, wie sich Haltungen und Meinungen ähneln, ja, bei allen Unterschieden im wirtschaftlichen und politischen Stand der Dinge, zuweilen gleichen.

Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs in Europa, der im strengen Sinne 1937 in Asien begonnen hat, waren die beiden Diktaturen von Hitler und Stalin angeblich "befreundet". Tatsächlich unterstützten sie sich und teilten sich Polen oder das Baltikum untereinander auf.

Und ein Artikel vom 01.02.1940 aus der britischen kommunistischen Zeitung "Daily Worker", den Friedhelm Grützner am Schluss seiner Studie zitiert, ähnelt denen

aus dem Spektrum der „antiimperialistischen“ Linken von heute über die „Vorgeschichte“ des aktuellen Krieges: „Hitler hat wiederholt erklärt, dass der Krieg ihm von England aufgezwungen worden sei. Diese geschichtliche Tatsache ist unwiderlegbar. Der Krieg wurde von England, nicht von Deutschland erklärt. Und die sowjetisch-deutschen Friedensangebote waren von England zurückgewiesen worden.“

Und selbst die Forderungen, die Waffenlieferungen einzustellen, wie sie Politiker der Wahltruppe einer Wagenknecht und rechtsextreme Gruppen und Parteien wie die AFD verkünden, ähneln sich. So warnte der amerikanische Fliegerheld Charles Lindbergh 

vor Waffenlieferungen aus den USA an Großbritannien angesichts eines sinnlos gewordenen Krieges. Dieses habe nach der Niederlage Frankreichs keine Chance mehr, den Krieg zu gewinnen. Waffenhilfen seien pure Verschwendung und stünden einem “besseren Frieden” im Weg. Falls die USA dies doch tun würden, so seien sie für „die nutzlose Verlängerung des Krieges verantwortlich und insbesondere für das Blutvergießen und die Verwüstungen, die in Europa noch weiter angerichtet werden.“ Dieser Kommentar stand allerdings nicht in einer pazifistischen Broschüre oder in einer kommunistischen Parteizeitung, sondern ist einem Interview Lindberghs mit dem Völkischen Beobachter vom 08.02.1941 entnommen.

Ergänzend noch ein Lektüretipp: Aus der Lindbergh-Geschichte entwickelte der große amerikanische Erzähler Philip Roth (1933-2018) seinen 2004 publizierten Roman "Plot against America", der in deutscher Übersetzung von Werner Schmitz als "Verschwörung gegen Amerika" erschien. In einer historisch überzeugenden, kontrafaktischen Geschichte erlangt die Fraktion um Lindbergh, der mit den Nazis sympathisiert, die Macht. 

Im Gegensatz zur Serienadaption ist der Roman zu empfehlen. Er zeigt, was der Historiker Friedhelm Grützner in seiner Studie darlegt, Geschichte hängt entscheidend davon ab, welche Akteure an der Macht sind.

Es gibt keine Zwangsläufigkeiten!

Einen Vergleich von gestern und heute, der in diesem Pick vorgenommen wird, gibt es auch in diesen Beiträgen zur Flucht und Migration aus der Sowjetunion und Russland.

Der Zeitenbruch von 2022 im Spiegel der Geschichte

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Kommentare 1
  1. Lutz Müller
    Lutz Müller · vor 2 Monaten

    Das ZDF heute journal am 14.08.2024 um 21:45 Uhr brachte etwas, das nachdenklich macht:
    In der Anmoderation zum Beitrag über die ukrainische Gegenoffensive in der Region Kursk vermerkt Christian Sievers:
    „… Die Bilder sind historisch: Zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat eine fremde Armee russisches Territorium besetzt. …“
    https://www.zdf.de/nac... - ab min 06:27

    Sicher kein guter Journalismus - weglassen und verdrehen.
    Korrekt wäre:
    Vor zehn Jahren hatte zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine fremde Armee ukrainisches Territorium besetzt, und jetzt …

    Russlandzentrierte Blickwinkel kommen in Politik und Medien immer wieder zum Vorschein, wenn es um die Nachfolgestaaten der UdSSR geht. Parallelen zum II. WK - Belarus und Ukraine waren zuerst und länger unter deutscher Besatzung, als russisches Territorium.

    In der Vorgeschichte wurden die multiethnischen osteuropäischen Staaten, wie es Friedhelm Grützner mit vielen Beispielen belegt, als „Manövriermasse der Großmächte“ behandelt. Ausführlich beschreibt der Autor Putins Narrativ. Eine explizite Erwähnung der Krimannexion und der Unterstützung der Donbass-Separatisten durch Russland hätten den Beitrag weiter untermauern können. Und auch dafür gab es eine Vorgeschichte - die Annexion georgischer und aserbaidschanischer Hoheitsgebiete durch Russland bzw. Armenien mit russischer Rückendeckung.

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