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Abschiedsrede für Jörg Schröder, den Begründer des legendären MÄRZ Verlages

Quelle: Annett Gröschner unter Verwendung eines Porträts von Malte Ludwigs

Abschiedsrede für Jörg Schröder, den Begründer des legendären MÄRZ Verlages

Annett Gröschner
Schriftstellerin und Journalistin
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Annett GröschnerSonntag, 19.07.2020
Es ist selten, dass jemand dort stirbt, wo er geboren wurde und dazwischen, bis auf staatlich verordnete Abwesenheiten wie Wehrdienst oder Wanderschaft, nicht zeit seines Lebens vor Ort bleibt, sondern die Welten munter wechselt, um am Ende doch einen Kreis gelaufen zu sein. Im Falle von Jörg Schröder ist das nicht im Sinne einer Vergeblichkeit zu betrachten, sondern im Gegenteil: als Vollendung.


Jörg Schröder wurde am 24. Oktober 1938 im Weddinger Virchow-Krankenhaus geboren und starb ebendort fast 82 Jahren später am frühen Morgen des 13. Juni 2020. Ein erstaunlich hohes Alter, hatte er es doch zwischen 30 und 40 geradezu angelegt darauf, früh zu sterben. Aber immer kam etwas dazwischen, in seinem Falle Barbara Kalender, und von den Exzessen blieben die Narben und die Schmerzen. Der Rest war – neben jeder Menge Vergnügen – Arbeit, erst als Buchhändler, dann als Verleger von allein 174 März-Büchern und etlichen anderen, als Buchgestalter und begnadeter Erzähler, der die Blätter lieber bedruckte als sie vor den Mund zu nehmen, denn wie sagte er über sein Mammutwerk Schröder erzählt:

„Die ganze Wahrheit kennt man ja nicht, aber wir wollten näher ran. Dazu gehörte natürlich dieses Über-sich-selber-Reden, aber eben auch über Leute, denen man begegnet.“

Was ihm, bevor er auf den genialen Trick mit der Subskription kam, etliche Prozesse nebst beschlagnahmtem Lager einbrachte. Über den mit der VG Wort über die Frage, was ein Sachbuch sei (den er auch mit Hilfe seines kongenialen Anwalts Albrecht Götz von Olenhusen gewinnen konnte, mit dem Wermutstropfen allerdings, dass seitdem Autobiografien nicht mehr vergütet werden); arbeitete ich 2005 in meiner Zeit in der Sachbuchforschung. So lernten wir uns kennen. Barbara Kalender und er waren auf dem Sprung von Augsburg nach Berlin und luden mich ein, weiter zu forschen:

„Hier liegen ja nun die von den Gerichten und diversen Gutachtern ‚geprüften’ Folgen von Schröder erzählt – etwas unfrisch, aber dennoch lesbar. Wenn die Institutsbibliothek in Berlin daran interessiert wäre, könnten wir zu den Materialien diesen real stuff spenden“, schrieben sie mir.

So kam die Bibliothek der Humboldt-Universität zu Schröder erzählt und ich zu meiner Lieblingslektüre. Ich las mich durch die Folgen der letzten 15 Jahre, wurde selbst Subskribentin und nannte es meinen Nachhilfeunterricht in Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, einem Staat, dem die Mehrheit meiner Landsleute 1990 gar nicht schnell genug hatten beitreten können und mit dem ich genauso fremdelte wie mit dem davor. Schröder erzählt war ganz nach meiner Fasson. Da sprach einer von der Seite, als teilnehmender Beobachter, der gelegentlich reingrätschend in den Mittelpunkt gerät und laut ausspricht, was andere aus Opportunismus nur hinter vorgehaltener Hand sagen.

Ich hatte nicht das Privileg, mit den gelben Bänden aufgewachsen zu sein. Das erste März-Buch, das ich Mitte der achtziger Jahre in Ostberlin sah, leuchtete aus der Bibliothek von Heiner Müller und war schon wegen der knalligen gelben Farbe als Westbuch zu erkennen. Ich lieh es aus, Heiner Müller war da großzügig. Es war Bernward Vespers Reise und dieses Buch beeindruckte mich so nachhaltig, dass ich es einbaute in meine Diplomarbeit über Inge Müller. Zwei Selbstmörder, die der Faschismus Jahrzehnte nach dem Krieg zerstört hatte.

Beiseite gesprochen: Meine mir immer noch herzallerliebste Auszeichnung für mein Werk ist der März Efeu. Auch ich wäre gerne Autorin des März Verlages gewesen.

Ruhiger wurde Jörg Schröder bis zum Ende nicht, aber bei allen Ausschweifungen, die dem Mammutwerk Schröder erzählt die Würze geben – undiszipliniert war er schon deswegen nicht, weil er in einem preußischen Beamtenhaushalt aufgewachsen war. 2008 haben wir gemeinsam den Ort seiner Kindheit in Berlin-Niederschönhausen aufgesucht. Gutbürgerlich wie eh und je, daran hat keine Gesellschaftsordnung etwas geändert, war das Haus der Schröders, wie auch das von Onkel Siegfried gegenüber, für Jörg noch gut zu erkennen, nur dass es nicht mehr in der Bismarck, sondern der Hermann-Hesse-Straße lag. Später wären wir zu viert bei einem Ausflug nach Rheinsberg beinahe in einem Kahn auf dem Rheinsberger See gekentert und schon wegen der Kälte ertrunken, hätte uns nicht Freund Ralf S. Werder durch zügiges Rudern gegen den Wind gerettet; tranken die drei bei einem Besuch des Schlosses Wiepersdorf, wo ich ein Stipendium hatte, den Wein des Bundespräsidenten weg und mäkelten über das Preis-Leistungs-Verhältnis; feierten wir Silvester auf dem Balkon in der Wexstraße und bestaunten um uns herum einen Bürgerkrieg mit Platzpatronen, der die Kreuzung Bundesallee für Stunden in dichtesten Nebel tauchte und unsere Ohren betäubte.

Und wir gründeten gemeinsam mit anderen Ketzerinnen und Ketzern des Glücksgotts die Märzgesellschaft. Dort haben wir Jörg am Sonnabend, den 7. März 2020, zum letzten Mal gesehen. Corona kam schon bedrohlich näher und wir umarmten und küssten uns nicht mehr. Wir waren optimistisch und sagten, dann eben beim nächsten Mal wieder. Diese letzte, nicht stattgefundene Berührung wird uns immer fehlen.

Für uns alle, die wir ihn zuletzt begleiteten, ist sein Tod ein großer Verlust. Besonders aber für Barbara Kalender. Die beiden waren das, was viele sich für ihre Beziehungen wünschen – gemeinsames Leben, Lieben, Arbeiten, was auch Krach, Streit, Gewitter einschließt. Schröder erzählt wäre nicht Schröder erzählt geworden, wenn Jörg Schröder nicht jemand aktiv zugehört hätte und sich über die Jahre mehr und mehr einschrieb in das Werk, das am Ende genausogut auch hätte Schröder und Kalender fallen sich ins Wort und richten es gemeinsam wieder auf heißen können. Barbara schrieb in ihrem Nachruf von ihnen beiden als perfekte Ergänzung, denn sie lebten und arbeiteten in diesem Jahr genau vierzig Jahre zusammen.

„Wir waren ein Kugelmensch“, so Barbara Kalender in ihrem Nachruf, jenes von Platon überlieferte mythische Wesen mit kugelförmigem Rumpf, vier Händen und vier Füßen und zwei Gesichtern, die in unterschiedliche Richtungen blicken. Das gab uns Kraft und Wagemut für alles, was wir in Angriff nahmen.“

Mein Lieblingsspruch von Jörg bleibt: „Immer radikal, niemals konsequent.“ Das ist ein Rezept, mit dem sich produktiv und unideologisch bleiben lässt und zugleich wünschte man sich den Satz als Handlungsanweisung für eine Gesellschaft, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität ernst nähme.

Wir werden Jörg sehr vermissen. Wenn wir seine Stimme hören wollen, werden wir Schröder erzählt aus dem Regal holen und darin lesen.

Im Hintergrund Kriemhilds Lache.


Die Abschiedsrede wurde am 10. Juli 2020 im Krematorium Baumschulenweg gehalten. Wer das Werk von Jörg Schröder und den MÄRZ Verlag noch nicht kennt, dem sei als Einstieg das Buch "Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus SIEGFRIED" empfohlen, die Neuausgabe letzter Hand von 2018, mit einer ausführlichen Chronik von Barbara Kalender im Anhang bei Schöffling & Co. in Frankfurt  am Main erschienen.


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