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Literatur

Grollkoffer im Paradies

Quelle: (c) Jochen Schmidt

Grollkoffer im Paradies

Jochen Schmidt
Schriftsteller und Übersetzer
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Jochen SchmidtMontag, 30.09.2019

Wie hier schon erwähnt, gucke ich zur Entspannung auf YouTube gerne Selbstversorger-, DIY- und GartenkanäleMan könnte meinen, daß man dort seinen Frieden vor den Hysterien der Menschheit hat, aber Gärtnern ist politisch, man kann auch hier schnell zur Zielscheibe kollektiven Unmuts werden.

"Selbstversorger Rigotti", ein freundlicher Mensch der sich für seinen Gartenkanal 131000 Abonnenten erarbeitet hat, gärtnert konqequent biologisch, imkert, hält Hühner, stellt Sauerkraut, Kefir oder Traubensaft her, kocht Tomatensauce für den ganzen Winter ein und hat ein durchdachtes System der Lagerung. Er läßt sich von einem Steinmetz (und Garten-YouTuber) erklären, wie man mit traditionellem Werkzeug die Kalktuff-Steine für eine Natursteinmauer bearbeitet (teilweise ist es heute billiger, Steine nach Indien zu schicken und dort bearbeiten zu lassen), er bekommt von einem Zuschauer Hilfe beim Schweißen, weil ein Weidefaß undicht ist, dreht immer wieder Videos mit einem Obstbaumexperten, rettet einen Bienenschwarm, der sich in einem hohlen Baum niedergelassen hat und schafft sich eine gebrauchte fünffach Kombi-Tischlermaschine (Dickenhobel, Abrichthobel, Fräse, Kreissäge, Tiefenbohrer) an, die er so laienhaft bedient, daß er Besuch von einem Schreinermeister bekommt, der ihm das Gerät und die Grundregeln des Arbeitsschutzes erklärt. (Ich weiß nicht, warum ich das, ohne je gehobelt oder gefräst zu haben, so spannend finde.) Es ist ein ständiger Lernprozeß, an dem er uns teilhaben läßt, jeder Tag bringt neue Aufgaben, ob bei Metall-, Stein- oder Holzbearbeitung und natürlich im Garten. Wöchentlich veröffentlicht er mindestens ein aufwendig geschnittenes Video, wobei das nicht sein Hauptberuf ist. Als er eine neue YouTube-Funktion, einen Mitglieder-Button, ausprobieren wollte (was damals ab 50000 Abonnenten ging), mit dem man für 4,99 Euro im Monat von ihm in Gartenfragen persönlich beraten werden kann, kam es zu einem Shitstorm, viele Zuschauer reagierten überraschend aggressiv und entzogen ihm ihre Liebe bzw. ihr Abo. Er war sozusagen zum Verräter am Non-Profit-Gedanken geworden. Wenige argumentierten dabei so sachlich, wie dieser Kommentator:

"YouTube (Google) und AMAZON verdienen sich den Rachen voll (auch dank der vielen Erfüllungsgehilfen [Content-Creator] hier auf YouTube, die ja nur mit einem Taschengeld abgewiesen werden), die Konsumboten reißen sich den Arsch auf und kommen nie auf einen grünen Zweig, der Youtube-Konsument (Zuschauer) soll die Arbeit des Content-Anbieters bezahlen, während sich dieser für ein Almosen von Google und deren Werbepartnern instrumentalisieren lässt ... "

Selbst in den Kommentaren auf anderen Garten-Kanälen wurde jetzt manchmal über Rigotti gelästert. Daß ihn auch die üblichen Troll- und Haßkommentare, zu denen es bei der Reichweite seiner Videos anscheinend zwangsläufig kommt, nicht kalt lassen, hat er gezeigt, indem er sie in satirischer Absicht am Ende seiner Videos vorgelesen hat. Er ist aber der Meinung, daß es sich um eine absolute Minderheit handelt. Als er einmal aus einem gußeisernen Stützpfahl einer Scheune, die abgerissen worden war, eine Laterne baute, zeigte er die Elektroarbeiten allerdings lieber nicht, denn beim Thema Elektro gebe es besonders viele Besserwisser unter den Zuschauern, die wollte er nicht herausfordern. Auch manche Imker werden schnell aggressiv, wie er feststellen mußte. Unter drei Imkern gibt es fünf Meinungen und es wird heftig gestritten. Er bekam das zu spüren, als er zeigte, wie er, nach der Methode seines Imkervaters, an einem warmen Märztag einen Kontrollblick in seine Bienenstöcke warf. Er hat auf die Kritik mit einem Video reagiert, in dem er eine Spezialistin zu Rate zog (ja, die Bienen werden gestreßt, aber ohne Kontrolle besteht die Gefahr, daß sie die Futterwaben nicht finden und das Volk stirbt), und seine Kritiker auffordert, statt sich aufzuregen, doch lieber ihre Erfahrungen zu schildern, damit man daraus lernen könne.

Der zur Zeit erfolgreichste deutsche Garten-YouTuber Ralf (179000 Abonnenten) gärtnert zwar "grün", hat aber von seinem Habitus her etwas, das auch für Leute anschlußfähig ist, die eher konventionell denken, z.B. besteht er auf Speck im Essen und gibt sich manchmal betont unintellektuell (bei ihm heißt die Zucchini "Zuschini"). Er betont immer mal, daß er nicht blauäugig sei und den Zuschauern keine idyllische Landwirtschaft vortäuschen wolle. Eine Ecke seines Ackers, auf der er mit Ackerwinde zu kämpfen hat, hat er mit einem Unkrautmittel bearbeitet, das hat ihm Ärger bei den Zuschauern eingebracht, und er hat mit einem Video reagiert, in dem ein hilfsbereiter Zuschauer versucht, die Pfahlwurzel einer Ackerwindenpflanze, die über zwei Meter in die Erde geht, auszugraben.

Er ist antikonsumistisch eingestellt und neugierig auf unkonventionelle Gartenprojekte, einmal im Jahr macht er eine Reise durch Deutschland, um solche Projekte zu besuchen. In einer Miniserie stellte er einen Biomilchbauern aus dem Erzgebirge vor, was einige Illusionen über Biomilch zerstören könnte (ich kaufe jetzt nur noch demeter). Als er ein humorvoll gemeintes Video online stellte, in dem er so tat, als hänge er sich auf, weil er als Selbstversorger gescheitert sei und seine Familie verhungern müsse (die Getreideernte war nichts geworden), mußte er bald die Kommentarfunktion bei YouTube abschalten, weil so viele Zuschauer das Video geschmacklos fanden. Er hat eine Woche später mit einem bitteren Monolog reagiert, sichtlich angefressen und voller Groll auf die Verlogenheit und Scheinheiligkeit der Menschheit.

In den Kommentaren dazu in seinem Blog erfährt er viel Zuspruch, einer sticht für mich einer heraus, weil er ganz gut beschreibt, wie man mit der Internet-Öffentlichkeit umgehen müßte:

"Die Anonymität im Netz bringt aus vielen Menschen das schlechteste hervor. Das ist ähnlich wie bei dem netten Familienvater, der sobald er im Auto sitzt zum rücksichtslosen und schreienden Ars... wird. Die Menschen die sowas schreiben sind aber nicht zwingend schlecht, sondern lassen sich von gewissen Mechanismen / Instinkten einfach nur treiben. Ich denke, dass die meisten Menschen, gerade bei den letzten Kommentaren die du bekommen hast, nur Aufmerksammkeit wollen. [..] Weiter könnte man noch davon ausgehen, dass das Video '… ich mach Schluß' einige Menschen wirklich aufgestoßen ist. Dein Video war von Anfang an so geschauspielert, dass man es einfach nicht falsch verstehen konnte. Auch solchen Leuten hilfst du nicht mit einer Erklär- oder Rechtfertigungsvideo. Solche Leute wollen es nicht verstehen oder können es nicht verstehen. Du machst die nur noch wütender oder bestätigst diese in ihrer Sicht. [..] Es ist halt leider so, dass vielleicht jeder zweite, dem etwas nicht gefällt einen negativen Kommentar schreibt, aber nur jeder 100. dem etwas gefällt ein Lob ausspricht. Die ist jedem klar, der irgendwie mit Menschen arbeitet."

Meine momentanen Lieblings-YouTuber (über einen Hinweis von Rigotti entdeckt) nennen ihren Kanal "Neues irisches Tagebuch". Sandra ist vor über 20 Jahren aus Deutschland ausgewandert und lebt mit dem Waliser Tim in der Nähe von Cork. Die positive Ausstrahlung der beiden, ihre Fähigkeit, sich an der Natur, an ihren Tieren und an ihren Freunden zu freuen, macht einem immer wieder gute Laune. "Neues Irisches Tagebuch" (25000 Abonnenten) ist der deutschsprachige Ableger ihres Kanals, die englische Version heißt "Way out west blog" (173000 Abonnenten).

Tim ist ein Selfmade-Genie, er hat sich eine Bandsäge gebaut, arbeitet an einer Donut-Maschine für ihren Marktstand, vertreibt "Chordelia", ein Gerät, mit dem man per Tastendruck Gitarrenakkorde spielen kann (auch ihr Haus, das ein begrüntes Dach hat, haben sie mit Freunden in weniger als einer Woche zusammengesetzt). Sandra bietet therapeutisches Reiten für Kinder an. Sie haben nicht viel Geld und suchen ständig nach Möglichkeiten, etwas dazuzuverdienen, z.B. in dem sie in großem Stil Elefantenknoblauch anbauen. (Tim versucht zur Zeit, eine Wellblechmaschine zu bauen, um Hundehütten herzustellen.) Eigentlich war Tim professioneller Imker, aber dafür eignet sich das Wetter im Westen Irlands nicht, es ist zu feucht für ausreichende Nektarbildung, so hat er diesen Beruf aufgeben müssen. Sie gaukeln keine heile Welt vor, es gibt ein Video, in dem man sieht, wie man ein Huhn möglichst schonend schlachtet. In zwei Beiträgen erklären sie, warum sie nicht anstreben, Selbstversorger zu sein, schon weil der Getreideanbau in dieser Region Irlands unmöglich sei, abgesehen von den Schwierigkeiten, die sich auftun, wenn man nicht nur Ernährung, sondern auch Energie und Transport als Teil der Selbstversorgung begreift.

In einem Video erklärt Tim seine Theorie, warum Brombeerbüsche die größten fleischfressenden Pflanzen seien. Bei Schafherden kommt es immer wieder dazu, daß Schafe in Brombeerranken hängenbleiben und sterben. Sie ergeben sich schnell ihrem Schicksal. Dem Busch führt das für lange Zeit Nährstoffe zu, man könnte es also für Absicht halten. Bei diesem Film ist natürlich kein Schaf gestorben, die beiden befreien ihre Schafe immer aus den Dornen. Der Film hatte eine gewaltige Zahl views, ca. 8 Millionen. Die Kommentare verselbständigten sich, die einen waren empört, daß man hier Schafe qualvoll sterben ließ, die anderen beschimpften "die Veganer". Es hatte nichts mehr mit dem Inhalt des Films zu tun. Tim erwähnt in einem Video, das diese Erfahrung beschreibt und den Fall auswertet, daß sie ca. 5000 Euro mit diesen Views verdient haben, was vielleicht ein Trost ist. (In einem anderen Film zeigt er seine Kanalstatistiken und rechnet vor, daß es von YouTube zeitweise ca. 30 Cent pro 1000 views gibt.)

Wenn man so lange Anteil am Leben und an den Fortschritten von Personen nimmt, die man überhaupt nicht kennt, berührt es einen auch, wenn es zu Schicksalsschlägen kommt. Der erwachsene Sohn aus erster Ehe von Tim ist in diesem Jahr in Kambodscha umgekommen, wovon sie in einem anrührenden Video erzählen. Es macht Mut, zu sehen, wie sie mit diesem Verlust seitdem umgehen. Tim, der schon einmal einen Sohn verloren hat, hat ein sehr kluges und berührendes Video über die Frage gemacht, warum Kinder sterben.

Man sieht also, daß man auch auf Garten-YouTuber-Kanälen von Schicksalsschlägen und von menschlicher Hysterie nicht verschont bleibt. Wenn mir nicht danach ist, gucke ich deshalb manchmal Restaurationsvideos auf YouTube, möglichst welche, bei denen nicht geredet wird und man nur Hände sieht (das scheint ein eigenes Genre zu sein). Zu sehen, wie ein alter Schleifstein, eine verrostete Kaffeemühle oder ein Akkubohrer wieder aufgearbeitet werden, hat etwas von Magie, Wiedergeburt, Schöpfertum. Es ist ein stiller Protest gegen die Endlichkeit des Lebens und die Destruktivität der Menschheit.

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Kommentare 1
  1. Theresa Bäuerlein
    Theresa Bäuerlein · vor 5 Jahren

    Vielen Dank für diesen ausführlichen piq – ich hatte bisher am Selbstversorgertum nur aus der Ferne Interesse, aber das hat mich jetzt definitiv angefixt, auch wenn die anstrengende Kommentarkultur, die du beschreibst, mich innerlich stark seufzen lässt. Dein Therapie-Ansatz mit Restaurationsvideos gefällt mir ;)

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