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Kopf und Körper

Was Reichtum ist – aus der Sicht unseres Gehirns

Silke Jäger
Freie Medizinjournalistin

Ich lebe in Marburg und schreibe über Gesundheit und Gesundheitspolitik.

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Silke JägerMittwoch, 18.08.2021

Die meiste Zeit des Jahres arbeiten die meisten von uns ziemlich hart, um sich Dinge leisten zu können, die wichtig für ein angenehmes Leben sind. Wir halten uns für reich, wenn wir viele Dinge besitzen und wir fühlen uns reich, wenn wir die Freiheit haben, unsere Zeit selbstbestimmt zu gestalten. Doch allzu oft nutzen wir diese Zeit dann, um vor einem Bildschirm zu sitzen.

In vielen Dingen, die wir kaufen, verstecken sich Tätigkeiten, für die im Arbeitsalltag zu wenig Zeit bleibt und die sowieso eher nerven. Wer kauft schon frische Erbsen in Schoten und pult sie vor dem Kochen aus der Schale? Oder baut sie gar im eigenen Garten an? Zu viel Arbeit im Sommer, nur um im Winter selbst gezogene Erbsen zu haben, die man mit vergleichsweise wenig Aufwand im Laden nebenan das ganze Jahr über kaufen kann. Und überhaupt: Ein eigener Gemüsegarten verträgt sich nicht besonders gut mit dem Fernweh in den Sommerferien.

Kelly Lambert ist Neurowissenschaftlerin und hat sich gefragt, was mit unserem Gehirn passiert, wenn wir Tätigkeiten, die früher ganz selbstverständlich zum Leben gehörten – wie zum Beispiel Gemüse selbst anbauen und es konservieren oder Kleidung selbst herstellen – durch andere ersetzen, die frühere Generationen kaum oder nur selten getan haben – wie zum Beispiel stundenlang vor einem Bildschirm sitzen. Sie hat sich gefragt, ob die Zunahme von Depressionen etwas damit zu tun haben könnte, dass körperliche Funktionen, für die in unserem Gehirn sehr viel Platz vorgesehen ist, eine immer kleinere Rolle in unserem Alltag spielen. Das sind vor allem Funktionen, die mit Bewegung zu tun haben. Vor allem mit den Bewegungen unserer Hände.

Lambert vermutete, dass die Unterbeschäftigung der Hände und immer weniger wiederkehrende Alltagsbewegungen Stress für unsere Psyche bedeuten. Analog zu Pharmaceuticals erfand sie das Wort Behaviourceuticals, um auszudrücken, dass Verhaltensänderungen einen positiven Effekt auf die Neurobiochemie und vor allem die Neuroplastizität des Gehirns haben. Mit Neuroplastizität ist gemeint, dass das Gehirn in der Lage ist, neue Nervenverbindungen zu schaffen, wenn wir mit unserer Umwelt auf neue Art interagieren.

Um ihre These zu überprüfen, machte sie einige Versuche mit Laborratten. Dabei bestätigte sich, dass es für das Gehirn einen Unterschied macht, wenn wir unseren Körper einsetzen, um ein Ziel zu erreichen. Bei Ratten drückt sich der Unterschied so aus: Diejenigen, die ihr Essen selbst ausbuddeln mussten und in einer interessanten, ihrem natürlichen Lebensraum nachempfundenen Umgebung lebten, lernten das Fahren mit einem Spezial-Rattenauto in 22 Trainingsstunden. Diejenigen, die nichts für ihr Essen tun mussten und in einer reizlosen Umgebung lebten, lernten das Autofahren nie.

Bevor ich Medizinjournalistin wurde, habe ich einige Jahre als Ergotherapeutin gearbeitet, unter anderem mit Schlaganfallpatient:innen. Neuroplastizität war für meine Arbeit damals das alles entscheidende Prinzip: Ohne die Fähigkeit des Gehirns, neue Verbindungen oder Umleitungen zu bauen, hätte ich Menschen kaum Hoffnung darauf machen können, dass sie verlorengegangene Körperfunktionen wiederbekommen können. Ein Schlüssel dabei war, den Menschen Tätigkeiten zu ermöglichen, die sie jeden Tag tun: ein Glas aus dem Schrank nehmen, sich ein Brot schmieren, Schuhe binden – mit der gelähmten Hand. Die beeinträchtigte Hand dafür zu benutzen, regt das Gehirn an, neue Nervenbahnen zu bilden und so die durch den Schlaganfall zerstörten zu ersetzen. Das klappt nicht immer, aber die Chance erhöht sich durch das Wiederholen von sinnvollen Tätigkeiten. Dass davon auch die Psyche profitiert, ist in der Ergotherapie schon lange bekannt.

Ohne Neuroplastizität könnten wir uns also nicht an veränderte Umweltbedingungen anpassen, wir könnten nichts dazulernen.

Dabei machen vor allem die Dinge einen Unterschied, die wir häufig tun. Funktionen nicht zu nutzen, die in unserem Gehirn evolutionär eine wichtige Rolle spielen (weil sie gebraucht wurden, um den Körper am Leben zu halten) könnte uns anfälliger für Depressionen und emotionalen Stress machen. Künstliche, reizüberflutete Umgebungen ebenso. Sinnvolle Alltagsbewegungen könnten diesen Stress wieder mildern.

Die Frage ist, wie man sich Zeit dafür organisiert in einer Umwelt, die einen unbequemen Alltag abschaffen will und in der sich fast alles auf die Fernsinne Sehen und Hören konzentriert und immer weniger aufs Spüren, mit eigener Muskelkraft in Bewegung setzen und selbst Erschaffen.

Was Reichtum ist – aus der Sicht unseres Gehirns

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Kommentare 2
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Abgesehen davon dass es tatsächlich Reichtum bedeutet seine Zeit selbst gestalten zu können - selbst wenn man dann "nichts" damit anfängt (=nichts scheinbar sinnvolles? Auch das dürfte natürlich sehr subjektiv sein) -

    beobachte ich das bei mir auch: die (Un)Tätigkeit der Hände.

    Wahrscheinlich ein Grund warum viele gern Stricken Häkeln etc.
    Aber vielleicht auch ein Aspekt, der Computerspiele (!) zur gewohnten Routine macht, selbst bei Spielen die man vielleicht hat nicht mehr ...interessant findet.
    Immerhin werden die Hände benutzt!

    Ich nutze allerdings auch zb das Geschirrspülen meditativ und anti-depressiv.
    Aber deswegen die moderne Zeitgestaltung gleich ablehnen? Immerhin nennt der obige Text ja auch die Vorteile von neuen Tätigkeiten und der dadurch entstehenden neuronalen Bahnen...

    und wie so oft dürfte es der Mittelweg sein:
    die Mehrheit wird sich keinen Garten anschaffen oder auf Alltags-Erleichterung verzichten - aber einen Garten mit anderen bearbeiten und man bekommt frisches Gemüse etc., das als freiwillige und freizeitmäßige Tätigkeit anzubieten, hilft schon.
    vorallem wenn man bedenkt, dass viele Menschen gar keine Wahl haben: die alleinerziehende Mutter zb oder wer mit zwei Jobs trotzdem aufstocken muss...

  2. Gabriele Feile
    Gabriele Feile · vor mehr als 3 Jahre · bearbeitet vor mehr als 3 Jahre

    Vielen Dank, das war sehr unterhaltsam. Ratten, die Auto fahren, habe ich noch nie gesehen.

    Das mit den Händen kann ich bestätigen. Heute war ich nach der Mittagspause auf meinem gepachteten Ackerstück und habe eine gute Stunde lang Unkraut gejätet, gehackt, gezupft und ein bisschen geerntet. Das war mein Ersatz für die Meditation. Mit den Händen zu arbeiten fühlt sich sehr natürlich an und erzeugt in der Regel ein sichtbares (oder essbares) Ergebnis. Ich brauche tatsächlich die Abwechslung zu meinem Schreibtischjob und finde deshalb auch putzen oder aufräumen nicht lästig, sondern erfüllend.

    Statt das Geld zu verdienen, mit dem ich mein Essen, meinen Urlaub oder meine "Bediensteten" bezahle, sorge ich lieber selbst direkt für meinen Lebensunterhalt und meine Entspannung. Je mehr Leute das erkennen und umsetzen, desto mehr wird sich ihr Wohlbefinden verbessern, da bin ich sicher. Und das kann große Folgen haben, wie wir im TED Talk lernen können.

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