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Volk und Wirtschaft

Indien - der Mythos der weltgrößten Demokratie demaskiert

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
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Thomas WahlSonntag, 10.11.2024

Die FAZ rezensiert das Buch „Das gespaltene Indien“ des indischen Ökonomen Ashoka Mody. Darin wird das historische Scheitern der parlamentarischen Demokratie des Riesenlandes konstatiert. Die Bürger des Landes wurden in den 80 Jahren der Staatsgeschichte immer wieder von charismatischen Politikern auf die falschen Pfade geführt - falsche Wirtschaftspolitiken, dramatische Ungleichheiten, Korruption, Eigennutz der Eliten. Die Entwicklung »öffentliche Güter« wie Bildung, Gesundheit, Infrastrukturen, Trinkwasser, saubere Luft und ein funktionierendes Rechtswesen blieb marginal. Der aktuelle Stand:

Gegen 24 der 78 Minister im Kabinett des jet­zigen Premierministers Narendra Modi liefen Strafverfahren. Dabei ging es nicht um Ba­gatellen, sondern um Mord, Vergewalti­gung und Entführung. Kriminelle Poli­tiker korrum­pieren die demokratischen Prozesse, ein erstarkender Hindu-Nationalismus setzt sich in Wahlen durch. Das starke Bevölkerungswachstum fordert jedes Jahr rund sieben Millionen zusätzliche Arbeitsplätze, die weder Staat noch Wirtschaft bereitstellen können. Hinzu kommt ein nach wie vor miserables Bildungssystem, mit allen fatalen Folgen, die sich daraus für eine Volkswirtschaft und ihre Bewohner ergeben.

All das ist aber schon in der frühen Genese der Institutionen und  Strukturen des Staates und der Gesellschaft angelegt. Ein zentraler Fehler war demnach eine Wirtschaftspolitik, die auf die Entwicklung der Schwerindustrie setzte, womit nur wenige Arbeitsplätze entstanden. Das im Gegensatz zu anderen aufstrebenden Entwicklungsländern wie China, Bangladesh, Vietnam, Südkorea oder Taiwan, die den Weg des Exportes arbeitsintensiver Produkte gingen.

In seinem Buch schreibt Mody:

 Charismatische Politiker, die Wähler mit ihrem Auftreten und schönen Worten für sich einnehmen können, umgehen die normale Rechenschaftspflicht und können staatliche Ressourcen für ihre bevorzugten Vorhaben verwenden. Jawaharlal Nehru, der erste der charismatischen indischen Politiker, war beim Volk beliebt und gewann mehrere Wahlen für die Kongresspartei. Nehru strebte nicht nach persönlichem Gewinn oder Prestige, aber von Idealismus und nationalistischem Eifer getrieben, verwettete er alles auf die Schwerindustrie, die jedoch ungeeignet war, das Heer der Arbeitssuchenden aufzunehmen.

Auch wenn es gut gemeint war, die Folgen sind katastrophal und bis heute spürbar.  Die Zahl der Arbeitsplätze wuchs zu wenig, die hohe Inflation fraß die Einkommen auf und die Armut blieb. Ähnlich, aber letztendlich noch schlimmer war es wohl mit Nehrus Tochter Indira Gandhi, die im Jahr 1966 Premierministerin wurde. Auch ihr gelang es, die Wähler lange mit ihrem Charisma zu beeindrucken. 

Sie sah sich einer frustrierten Gesellschaft gegenüber, die unter dem Mangel an Arbeitsplätzen und der immer wieder aufflammenden Inflation litt. Gandhi verstand die Wut: Die Unabhängigkeit, erklärte sie, habe bei den Indern Hoffnungen geweckt, die sich nicht erfüllten. Aber Gandhi hatte wenig Lust, beharrlich für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Stattdessen verwandelte sie sich in einer Ära erbitterter politischer Machtkämpfe selbst in eine zynische Machtpolitikerin, die mit Slogans um sich warf und sich an die Macht klammerte, um sie an ihren Sohn Sanjay weitergeben zu können. Sie machte die Korruption zum politischen Programm. Sie bekämpfte die wachsende gesellschaftliche Unruhe mit der Staatsgewalt und schuf auf diese Art ein Muster der gewaltsamen Unterdrückung, an dem sich ihre Nachfolger orientierten.

Aber ihr Ruf als Vorkämpferin der Armen hat sich bis heute weitgehend erhalten. In dem Buch zeigt Mody auch, dass ein weiter so für Indien nicht funktionieren würde. Er widerspricht Meinungen, nach denen Indien sich den »Luxus« der Demokratie nicht leisten kann.  Wonach also ein starker Politiker mit diktatorischen Befugnissen notwendig wäre, um die Grundlagen für ein nachhaltiges Wachstum zu schaffen.

Doch die autokratische Versuchung ist mit großen Gefahren verbunden. Die neuzeitlichen Retter haben in Indien und anderswo allzu oft großen Schaden angerichtet. Indien braucht mehr Demokratie. Die Befugnisse müssen dezentralisiert und auf die Gemeindeverwaltungen übertragen werden. Die dezentrale Regierung weist ihre eigenen Risiken auf, aber sie stellt die beste – und vielleicht einzige – Möglichkeit dar, eine moralisch verankerte Rechenschaftspflicht durchzusetzen.

Wir sehen also in Indien grundsätzlich durchaus ähnliche Diskussionen und Kämpfe wie hierzulande. Aufgrund der Armut nur noch heftiger. Klar ist auch, Indien ist im Ringen der Weltmächte wohl nicht die strahlende demokratische Alternative zum autokratisch regierten China. Es ist viel komplizierter als oft gedacht. Die Zukunft wird es zeigen.

Indien - der Mythos der weltgrößten Demokratie demaskiert

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