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Volk und Wirtschaft

»Mismatch« – wenn der Arbeitsmarkt nicht mehr zu Langzeitarbeitslosen passt (und umgekehrt)

Christian Huberts
mächtiger™ Kulturwissenschaftler und Kulturjournalist
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Christian HubertsMittwoch, 06.06.2018

Dem deutschen Arbeitsmarkt geht es prächtig, viele Unternehmen suchen händeringend nach neuen Mitarbeitern. Wie kann es unter diesen Bedingungen überhaupt noch Menschen geben, die seit mehr als einem Jahr ohne Job, also langzeitarbeitslos sind? Nicht Unwille oder Faulheit sind das Problem, sondern »Mismatch«, das Nichtübereinstimmen der Möglichkeiten der Betroffenen mit den Anforderungen des Arbeitsmarktes. Immerhin rund 850.000 Menschen sind davon in Deutschland betroffen. Sie können arbeiten, aber nicht in dem Umfang und mit der Flexibilität, die die moderne Arbeitswelt vorsieht. Gründe dafür sind fortgeschrittenes Alter, persönliche Traumata und Krankheiten. In der taz stellt Barbara Dribbusch drei beispielhafte Fälle vor.

Simona Heidinger aus Mecklenburg-Vorpommern etwa. Sie arbeitet 32 Stunden in der Woche und bezieht dennoch Arbeitslosengeld 2. Ihr Job in einer Kleiderkammer ist ein Ein-Euro-Job. Daneben verdient sie sich in einer Wäscherei einmal pro Woche etwas zum Hartz-IV-Satz dazu. Sie fühlt sich »zwischen nutzlos und ausgenutzt«, aber mit 53 Jahren will sie auch nicht mehr aus ihrer Heimatregion wegziehen oder einen laut Jobcenter »zumutbaren« Arbeitsweg von 2,5 Stunden akzeptieren. Ihre kranken Bronchien machen aus ihr zudem eine Person mit »multiplen Vermittlungshemmnissen«, wie es im Amtsjargon heißt. Sie kann arbeiten, will arbeiten, aber nicht unter der inflexiblen Anforderung bedingungsloser Flexibilität.

Auch die 44-jährige Tülay Canlan aus Braunschweig hat multiple Vermittlungshemmnisse. Ein medizinisches Gutachten bescheinigt ihr mittlerweile eingeschränkte Arbeitsfähigkeit:

Vermutlich wird Canlan aufgrund ihrer schlechten Gesundheitszustands also demnächst frühverrentet werden. Finanziell würde es keinen wesentlichen Unterschied bedeuten. Aber es würde heißen, dass das Jobcenter nicht mehr für Canlan zuständig ist, eine Schulung irgendeiner Art wäre ausgeschlossen. In der Statistik der Langzeitarbeitslosen käme Tülay Canlan dann nicht mehr vor.
»Mismatch« – wenn der Arbeitsmarkt nicht mehr zu Langzeitarbeitslosen passt (und umgekehrt)

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Kommentare 2
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor mehr als 6 Jahre

    Mit drei Fallbeispielen kann man aber nicht beweisen, dass alle 850.000 arbeiten wollen. Auch die „Unlust“ auf Arbeit ist übrigens ein Mismatch und nichts ehrenrühriges.

    1. Christian Huberts
      Christian Huberts · vor mehr als 6 Jahre

      »Unlust« ist allerdings ein nichtssagender und ressentimentgeladener Begriff. Was ist »Unlust«, bitte? Niemand hat einfach »keine Lust«. Es gibt viele mögliche Gründe dafür, warum Menschen nicht mehr Arbeiten wollen. Eine noch nicht diagnostizierte Depression etwa, eine Angststörung oder Suchterkrankung. Seit Jahrzehnten zeigen unter anderem die Daten der Krankenkassen, dass Langzeitarbeitslose ein erhöhtes Risiko für diese Probleme besitzen: https://www.bpb.de/pol.... Gesetzliche Aufgabe der Jobcenter ist es, ihren Kunden nicht »Unlust« zu unterstellen, sondern unvoreingenommen und konstruktiv mit Vermittlungshindernissen umzugehen. Doch der dafür notwendige Etat für »Leistungen zur Eingliederung in Arbeit« sinkt seit Jahren: http://www.sueddeutsch....

      Grund dafür ist sicher auch die politisch wirksame und kontinuierlich hohe gruppenbezogene Menschenfeindlich gegenüber Langzeitarbeitslosen in der Gesellschaft. Sie bewegte sich zuletzt – laut der Mitte-Studie von 2016 – mit rund 50% auf dem selben Niveau wie die Verbreitung der Ablehnung von Geflüchteten: http://www.fes-gegen-r.... Die Unterstellung von »Unlust« ist ein Symptom dieser gesellschaftlichen Entsolidarisierung. Daher dienen die drei Fallbeispiele auch weniger als pauschaler »Nachweis des Arbeitswillens« von Langzeitarbeitslosen. Den benötigt es nämlich nicht für eine gesicherte Existenz und ein Leben ohne Anfeindungen. Die von der taz vorgestellten Individuen dienen – ganz tautologisch – der Vorstellung von Individuen. Dass es sich nämlich bei Langzeitarbeitslosen um komplexe Biografien handelt, die sich nicht auf den Begriff der »Unlust« herunterbrechen lassen, lässt sich in einer Statistik schlecht abbilden.

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