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Volk und Wirtschaft

Stagnation

Thomas Wahl
Dr. Phil, Dipl. Ing.
Zum Kurator'innen-Profil
Thomas WahlDonnerstag, 04.03.2021
Wir alle sind Kinder des Fortschritts – selbst wenn wir viele der Folgen kritisch sehen oder ablehnen. Unsere westlichen Gesellschaften sind auf Wandel zum Besseren angelegt, dies ist zumindest das Versprechen.
Der Fortschritt ist und bleibt dafür das Master-Narrativ. Die modernen Gesellschaften betrachten sich seit der Aufklärung bevorzugt im Rahmen eines Musters der strukturellen Steigerung zum Besseren, ob quantitativ oder qualitativ. Die soziologische Grundannahme lautet, dass sich die Moderne – im Gegensatz zur statischen Vormoderne – durch ein hohes Maß an Dynamik auszeichnet, durch sozialen Wandel in Permanenz. Das Zeitregime der Moderne ist zukunftsorientiert, die Zukunft erscheint als ein Horizont offener Möglichkeiten, sodass fortwährend das überholte Alte durch das Neue abgelöst wird – von der Technik über die Wirtschaft bis zur Politik.
Ein Verzicht auf Modernisierung, auf Fortschritt ist schwer vorstellbar. Auch Postwachstums-Anhänger sehen sich als fortschrittlich. Keiner will Regression, Niedergang und Verfall. Auch oder gerade weil das Genre der Dystopie von den Medien, von Literatur und Film stark verbreitet wird und damit Regressionsvorstellungen im kollektiven Bewusstsein verankert sind.

Weit weniger verbreitet ist laut Reckwitz ein drittes, viel plausibleres Beschreibungsmuster – das der Stagnation.
Vieles spricht dafür, dass die USA mittlerweile tatsächlich den Prototyp einer Gesellschaft der Stagnation darstellen. Stagnation heißt: Die Gesellschaft hat Strukturen ausgebildet, die problematisch erscheinen, diese Probleme werden jedoch nicht aufgelöst, vielmehr bleiben die Strukturen über Jahrzehnte stabil. Keineswegs muss eine Gesellschaft der Stagnation also kollabieren. Es geht in ihr weder aufwärts noch abwärts, es geht schlichtweg "immer weiter". Vieles funktioniert in ihr leidlich gut, und beträchtliche soziale Gruppen sind zufrieden – die Diagnose der Regression wäre also viel zu dramatisch. Zugleich läuft jedoch eine Endlosschleife der immer gleichen Probleme, über die beständig debattiert wird, deren Grundstrukturen aber mehr oder minder unverändert bleiben.
Früher galt das italienische Mezzogiorno als Region und soziale Struktur, deren Probleme – Arbeitslosigkeit, mangelnder sozialer Aufstieg, organisierte Kriminalität – sich in einer Endlosschleife bewegten. Nun scheint die Stagnation mitten im Zentrum der westlichen Moderne, den USA, zuzuschlagen. Und wenn man genau hinschaut, sieht man die Anzeichen auch in Europa. Dynamik in Permanenz sieht anders aus – auch wenn die Medien uns ein Bild ständiger Veränderung vorgaukeln.
Für Frankreich und Großbritannien ist nach der De- und Postindustrialisierung die strukturelle Asymmetrie zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern, zwischen Zentren und Peripherien ebenso charakteristisch wie für die USA. In Frankreich ist das politische System ebenfalls durch Polarisierung und Selbstblockade geprägt, das politische Großbritannien steckt in der Brexit-Bewältigung fest.
In Deutschland sieht Reckwitz die strukturelle Asymmetrie und soziale Ungleichheit etwas schwächer ausgeprägt:
Die traditionelle Mittelklasse ist etwas robuster und die prekäre Unterklasse etwas kleiner ausgeprägt, die Stadt-Land-Differenzen erscheinen nicht ganz so gravierend. Aber man müsste blind sein, um die sozialen Stagnationstendenzen zu übersehen. Dass hierzulande die politische Polarisierung weniger prägend ist und in der Politik lagerübergreifende Kooperationen möglich sind, ist sicherlich der größte Vorzug. 
Er schreibt aber Deutschland auch eine besondere Rolle zu, derer wir uns bewusst werden sollten:
Im Kreis der vier großen Länder, die den Kern des westlichen Gesellschaftsmodells auf globaler Ebene repräsentieren, könnte es potenziell wohl noch am ehesten demonstrieren, dass gesellschaftliche Stagnation nicht das langfristige Schicksal des westlichen Entwicklungspfades sein muss. Stagnierende Gesellschaften mit beharrlich andauernden Problemlagen können sich allerdings als erstaunlich stabil darstellen. Inwiefern die USA auch in dieser Hinsicht ein Vorbild sind, wird sich erweisen.
Tatsächlich scheinen sich unsere sozialen und politischen Problemstrukturen wechselseitig zu bestärken und zu blockieren. Und wir beschäftigen uns mit Nebensächlichkeiten.

Leider ist dieser Artikel kostenpflichtig. Wer sich mit dem Denken von Reckwitz und seiner Theorie der Moderne vertraut machen will, der sei noch mal auf meinen piq dazu verwiesen. Der Podcast ist inzwischen bei Folge 7.
Stagnation
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