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Zeit und Geschichte

Die schwierigen Anfänge der Holocaust-Forschung in West-Deutschland

Dennis Basaldella
Medien- und Filmwissenschaftler, Historiker
Zum Kurator'innen-Profil
Dennis BasaldellaMittwoch, 07.02.2024

Kürzlich erzählte mir ein enger Freund von einem Plakat, das bei der Demo gegen Rechts am 3. Februar vor dem Bundestagsgebäude in Berlin zu sehen war. Sinngemäß lautete die Botschaft: "Wie viele Hitler-Dokus braucht ihr noch?" Man könnte meinen, dass die Geschichte des Holocausts und die grausamen Verbrechen des Nationalsozialismus genügend Lehrmaterial bieten, um zu zeigen, wohin Hass und die Ausgrenzung von Minderheiten und Andersdenkenden führen können. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 70 Jahre nach Kriegsende eine Partei wie die AfD dennoch wieder unverhohlen darüber spricht, Menschen, die nicht in ihr verzerrtes Weltbild passen, "remigrieren" zu wollen, lautet die Antwort auf die Frage des Plakats wohl, dass es noch viel zu wenige solcher Dokumentationen gibt.

Besonders an Gedenktagen wie dem 27. Januar, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, wird uns als Gesellschaft das Grauen immer wieder vor Augen geführt. Doch eine Frage, mit der sich die (west-)deutsche Gesellschaft lange Zeit schwergetan hat (und diejenigen, die die AfD wählen, scheinbar immer noch schwertun), ist die Frage nach der Verantwortung für die millionenfachen Morde der Nationalsozialisten. Ein wichtiger Akteur in diesem Zusammenhang ist der amerikanische Historiker Raul Hilberg. Seine wegweisende Dissertation Die Vernichtung der europäischen Juden (im Original The Destruction of the European Jews) aus dem Jahr 1961 zählt zu den Standardwerken der Holocaust-Forschung. Eine der zentralen Thesen seines Buches - die auch zu einem besseren Verständnis der Komplexität des Massenmords beigetragen hat - ist die, dass Hitler zwar der wichtigste Akteur war, der Holocaust jedoch erst durch die große Anzahl von Menschen und Organisationen möglich wurde, die Teil des komplexen deutschen Verwaltungsapparats waren und sowohl an den Deportationen als auch am Massenmord beteiligt waren.

Die nach seiner Veröffentlichung immer wieder diskutierte These der "Kollektivschuld" oder "Gruppenschuld" sorgte im Nachkriegsdeutschland für Aufsehen und führte dazu, dass zahlreiche Verlage sich weigerten, das Buch zu veröffentlichen. Erst 1982, 31 Jahre nach der Erstausgabe, erschien dieses bedeutende Werk schließlich auf Deutsch.
[An dieser Stelle auch noch der Hinweis auf die hilfreiche Ergänzung von Achim Engelberg im Kommentar unter dem Text zur Einordnung von Hilberg, auch in Hinblick auf die Verfügbarkeit bzw. der Zielgruppe von Hilbergs Buch]

Wer einen Einblick in die Arbeit von Hilberg und vor allem die Umstände dieses wichtigen Buches erhalten möchte, dem sei daher die hier verlinkte Folge der Reihe Lange Nacht von Deutschlandfunk Kultur ans Herz gelegt.

In Anbetracht dessen ist es umso wichtiger, dass die Demonstrationen gegen Rechts und gegen die menschenfeindliche Politik der AfD nicht abreißen und uns als Gesellschaft immer wieder vor Augen führen, wohin Worte wie "Remigration" führen können. Denn oft folgen auf Worte leider auch Taten. Wenn wir daher als demokratische Gesellschaft nicht lautstark dagegen protestieren, den Mund aufmachen und die Demokratie verteidigen, machen wir uns mitschuldig.

Die schwierigen Anfänge der Holocaust-Forschung in West-Deutschland

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Kommentare 4
  1. Achim Engelberg
    Achim Engelberg · vor 9 Monaten · bearbeitet vor 9 Monaten

    Ohne die lange Sendung gehört zu haben, einige Anmerkungen zur Moderation dieses piq.

    Schwierigkeiten mit der Shoah hatten nicht nur das doppelte Deutschland, sondern viele Länder.

    Hilberg war in der Tat ein Pionier, allerdings ist er was für Fachleute. Es ist eine mehrfach überarbeitete Dissertation mit über 1300 Seiten.

    Die erste Gesamtdarstellung von 1933 bis 1945 stammt von Saul Friedländer, ist zwar ähnlich lang, aber eben die ganze Geschichte: https://yourbook.shop/...

    Die erste Doku zur Vernichtung der europäischen Juden erschien 1955:
    https://fredvogels.com...

    Die Musik davon stammt von Hanns Eisler, dem Komponisten der DDR-Nationalhymne. Der erste Spielfilm zur Shoah DIE STERNE aus dem Jahr 1959 war übrigens auch eine DDR-Produktion.

    Da der Drehbuchautor im letzten Jahr im 101. Lebensjahr verstarb, schrieb ich diesen Beitrag, der auch in Englische übersetzt ist:
    https://jacobin.de/art...

    "Es wurde die Stunde des Konrad Wolfs: Sterne war eine Sensation bei den Filmfestspielen in Cannes 1959. Es ist die Geschichte einer unerfüllten Liebe zwischen einem Walter genannten deutschen Militärangehörigen und der Jüdin Ruth. Sie begegnen sich in einer kleinen bulgarischen Stadt, wo der Zug mit griechischen Juden 1943 auf dem Weg in die Gaskammern von Auschwitz drei Tage warten muss. Dort bittet Ruth den Walter genannten um Hilfe für eine gebärende Mitgefangene. Er hilft so gut er kann, und beide verlieben sich ineinander. Das bewirkt die allmähliche Wandlung des ehemaligen Kunststudenten, den seine Kameraden Rembrandt nennen, wo das immer wieder thematisierte Verhältnis zwischen Kunst und Macht aufscheint.
    Er gerät in Konflikt mit seinem befreundeten Vorgesetzten Kurt, der brutal soldatische Pflichterfüllung fordert, und Wünschen, er solle den im Wehrmachtstützpunkt arbeitenden bulgarischen Widerstandskämpfern helfen. Beides kann er nicht, er will nur Ruth retten. Als er ihren Abtransport nicht verhindern kann, ändert Walter seine Haltung und gibt dem Widerstand Waffen. Ein Sprecher, der offensichtlich wie »Jackie« ein Partisan ist, sagt im Film: »Für uns alle war er eben einfach der ›Herr Unteroffizier‹. Niemand hat seinen Namen erfahren. Daher haben wir ihn Walter genannt…« Die Geschichte dieser Wandlung erzählt der Film, allerdings gehören die letzten Bilder der im Zug in die Vernichtungslager gefangenen Ruth. Ein jüdisches Lied erklingt: »Es brennt! Es brennt, mein Haus, hilf! Steh nicht mit gekreuzten Armen – lösch es mit deinem Blut, sonst entflammt es deines!«
    Der Film bekam den Spezialpreis der Jury und wurde in 72 Ländern verkauft. Nicht aufgeführt werden konnte er zunächst in Israel, weil man die Wandlung eines positiv gezeichneten Wehrmachtsangehörigen nicht zeigen wollte, und in den arabischen Ländern, in denen das Leid der Juden nicht auf die Kinoleinwand kommen sollte. Verdeckt doch für viele Araber der Holocaust die Vertreibung der Palästinenser. Mittlerweile ist Sterne einer der klassischen Filme über den Mord an den europäischen Juden."

    1. Dennis Basaldella
      Dennis Basaldella · vor 9 Monaten

      Danke für die wichtige Ergänzung. Ich habe den Titel ergänzt bzw. auf West-Deutschland begrenzt.

    2. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 9 Monaten

      @Dennis Basaldella Danke. Allerdings Hilberg gab es auch in der DDR nicht. Schwierigkeiten mit der Shoah hatte man ja dort auch, weil man ebenso viele Nazis eingliedern musste. Und vor allem: Nachdem die Sowjetunion und Israel sich entzweit hatten, war der Judenstaat ein imperialistisches Gebilde. Man hielt es mit den Palästinensern und trug Kufiya.

  2. Marcus von Jordan
    Marcus von Jordan · vor 9 Monaten · bearbeitet vor 9 Monaten

    Nun man könnte auch auf die Idee kommen, dass solche Dokumentationen nichts nützen. Oder eben zumindest, dass das was in der AfD und in den Köpfen von Millionen Menschen gerade (wieder?) passiert, dadurch nicht verhindert wird. Noch nicht mal behindert. Dass mehr davon dann nützt, mag ich nicht glauben. Da gibt es doch ein anderes Problem, kein Informationsproblem. Eher ein Transferproblem - wir reden entweder über Menschen, die von dieser Art Information nicht erreicht werden (dann wäre die Frage, wie streut man diese Information anders, vielleicht weniger "elitär" oder "akademisch"...) oder wir reden eben über Menschen, die ja eben die Verbindung nicht akzeptieren. Oder nicht sehen. Die also alles Nötige wissen über die Nazis und den Holocaust und ganz selbstverständlich sagen würden, dass sie das schrecklich finden und es nie wieder passieren darf, aber eben im selben Moment fragen würden "was hat das mit meiner AfD" zu tun. Bzw. eben sagen würden "aber nein - wir sind natürlich keine Nazis und wollen keinen Faschismus". Ich habe jetzt doch schon einige Neurechte gesprochen und keiner hätte zugegeben oder eingesehen, dass er oder Höcke so etwas wie den Holocaust wollen würden oder möglich machen würden.

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