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Kurator'in für: Flucht und Einwanderung Literatur Fundstücke Zeit und Geschichte
Dissertation über John Berger (Dr. phil.). Seine Essays und Interviews, seine Reportagen und Rezensionen erscheinen u. a. in Neue Zürcher Zeitung, Blätter für deutsche und internationale Politik, Sinn und Form, Jacobin und Lettre International. Als Historiker wertet er den in der Berliner Staatsbibliothek vorliegenden Nachlass seines Vaters aus. So erschienen »Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute« (2010, zusammen mit Ernst Engelberg) oder die von ihm herausgegebene Neuedition von Ernst Engelbergs »Bismarck. Sturm über Europa« (2014). Als Buchautor publizierte er zuletzt das literarische Sachbuch »An den Rändern Europas« (2021).
Zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse erhielt Anne Applebaum den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels - ein gesellschaftliches Ereignis, das die ARD überträgt und nun in der Mediathek zu finden ist.
Zum Nachlesen gibt es die Reden. So hielt die im deutschen Exil lebende Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der mit dem Friedensnobelpreis 2022 ausgezeichneten Menschenrechtsorganisation Memorial, die Laudatio.
Hier ein älterer Pick mit einem prägnanten Essay. In ihrer Rede "Die feine Linie" sagt sie anerkennend:
Aber heute sehe ich Anne Applebaums Rolle als Historikerin und öffentliche Intellektuelle darin, sicherzustellen, dass die feine Linie, die die Wahrheit von der Lüge in der Vergangenheit und in der Gegenwart trennt, bestehen bleibt!
Wie zu erwarten trug Anne Applebaum ein flammendes Plädoyer für die Unterstützung der Ukraine vor und forderte zu einem entschiedenen Kampf gegen Diktaturen auf.
Und das steht im Schlussabsatz:
Im Kampf gegen die hässliche, aggressive Diktatur auf unserem Kontinent sind unsere stärksten Waffen unsere Grundsätze, unsere Ideale und die Bündnisse, die wir um sie herum aufgebaut haben. Gegen das Wiedererstarken des Autoritarismus sind wir in der demokratischen Welt natürliche Verbündete. Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können, und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können; unsere gemeinsame Überzeugung, dass Freiheit möglich ist, und dass wahrer Frieden möglich ist, auf diesem Kontinent und überall auf der Welt.
Das ist eine entschiedene Haltung, eine Aufforderung zum Handeln. Allerdings ist hier mit breitem Pinsel in Schwarz-Weiß gemalt.
Hier müssen einige Grautöne eingefügt werden.
In der ersten Reihe in der Paulskirche saß der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski, der mit Anne Applebaum verheiratet ist. Über ihn gibt es immer wieder Vorwürfe über krumme Geschäfte. Da er nicht rechtskräftig verurteilt ist und es bekanntlich keine Sippenhaft gibt, kann man das ignorieren, obwohl es ein Geschmäckle hat. Schwieriger wird die Einschätzung von Anne Applebaum bei einem Blick auf ihre Webseite. Es gibt dort Beiträge beispielsweise aus dem Jahr 2000, aber ihre Artikel fehlen, in denen sie für die Kriege in Afghanistan und dem Irak warb. Deshalb schreibt Jan Feddersen in seinem Würdigungsartikel in der taz diese berechtigte Kritik:
Es hätte womöglich für eine gewisse Unruhe im Auditorium gesorgt, wäre die US-amerikanische Polin Applebaum zu den eigenen Fehlern vorgedrungen, etwa zum Fantasma, per Krieg, beispielsweise in Irak und Afghanistan, Demokratie implantieren zu können. Applebaum plädierte einmal sehr für den Irakkrieg, brillante Neocon-Fellow – und sie irrte sich. Da hätte das Publikum vielleicht erfahren: Wie lernt es sich, als Anti-Totalitäre, aus Fehlern?
Quelle: Anne Applebaum, Irina Scherbakowa, Jan Feddersen Bild: ARD www.ardmediathek.de
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Noch eine Ergänzung: Licht und Schatten liegen bei Anne Applebaum dicht nebeneinander. In der Zeit, wo das mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Gulag-Buch erschien (2003), was auch nach Irina Scherbakowa ihr wichtigstes Buch bis heute ist, agitierte sie für den Irakkrieg. Das Gulag-Buch ist keine wissenschaftliche Glanzleistung, aber eine brauchbare Einführung. Als ich ab 2005 bei einem Dokumentarfilm über das KARLAG (das Lagersystem um Karaganda) beteiligt war, musste ich einigen Fernsehleuten erklären, was der Gulag war. Applebaum verstanden sie.
Hier noch ein Facebook-Post von Danilo Scholz, Publizist, Ideenhistoriker und Übersetzer:
Man bekommt einen steifen Hals vor lauter Kopfschütteln über die Art und Weise, in der das deutsche Feuilleton Anne Applebaum derzeit hofiert. Das sind teilweise keine Rezensionen mehr, das sind Ergebenheitsadressen.
Den Vogel abgeschossen hat Julia Encke letzte Woche in der "FAS". Kognitives Runterdimmen ist erforderlich, um manchen dieser Sätze Schlüssigkeit abzugewinnen. So beginne Applebaums jüngstes Werk "mit etwas, das hierzulande wie eine Art Nationalheiligtum gehandelt wird: mit der Ostpolitik, die unter Willy Brandt zur tragenden Säule der Außenpolitik wurde".
Warum wird mir hier abverlangt, dass ich vergesse, was ich in den FAZ-Nachbarressorts seit mehr als zwei Jahren in größter Ausführlichkeit, etwa in den Texten von Markus Wehner, lese? Mehr noch: Jeder Depp im deutschen Journalismus hat seit dem Februar 2022 mindestens einen Artikel zu Papier gebracht, in dem der Ostpolitik der Prozess gemacht wird. Gut möglich, dass Bahrs "Wandel durch Annäherung" mal als friedenswahrendes "Nationalheiligtum" durchging, aber inzwischen ist dieses Monument hundert-, wenn nicht tausendfach vom Sockel gestoßen worden.
Encke weiter: "Selten liest man Bücher, die alles auf einmal sind: investigative Recherche, historische Forschung, politischer Appell und atemberaubend gut geschriebene Essayistik. „Die Achse der Autokraten“ der diesjährigen Friedenspreisträgerin ist so ein Buch. Ein Glücksfall."
Das unter Encke zielstrebig zum NATO-Wehrertüchtigungsbulletin umgebaute FAS-Kulturressort mag vieles zu bieten haben, ein geschichtliches Gedächtnis hat dieses politische Feuilleton nicht.
Anne Applebaum, "Washington Post", 30. August 2010: "I supported the invasion of Iraq, I think the surge was a success and I believe that an Iraqi democracy could be a revolutionary force for good in the Middle East."
Man muss wohl so falsch liegen, das Blut von Tausenden an der schreibenden Hand kleben und sich ungewollt als publizistische Geburtshelferin des IS hervorgetan haben, um mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet zu werden. Gab es auch nur einen Artikel über Applebaum im deutschen Feuilleton des letzten Monats, der auf ihren Neocon-Irrsinn auch nur eingegangen wäre? Diese Lust auf historische Demenz verstört - und sie ist verdammt gefährlich.
Oder wie Encke schreibt: "'Wir wachen sehr spät auf', heißt es an einer Stelle in 'Die Achse der Autokraten'. Viele scheinen jedoch noch längst nicht aufgewacht zu sein. Dass viele Europäer und Amerikaner bei dem Versuch, die Welt zu verstehen, nur von ihrer eigenen Erfahrung ausgehen, stellt dabei eines der großen Probleme dar."
Indeed.
Vielen Dank für die hilfreichen Informationen, die Sie mitbringen. Ich hoffe, Sie werden in Zukunft allen so viele tolle Beiträge wie möglich liefern.
@io games