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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Ein kleines Dossier zum Tod der großen Ruth Klüger

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMittwoch, 07.10.2020

Wir trauern um Ruth Klüger, die in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober 2020 nach langer Krankheit im Kreis der Familie in Irvine, USA gestorben ist.

So eine Pressemitteilung ihres deutschen Verlages Wallstein. Eigentlich wollte die in den USA lehrende Germanistik-Professorin ihre Erinnerungen bei Suhrkamp publizieren. Der Verlag lehnte ab.

Heute gehört "weiter leben" zu den wenigen Büchern von Anfang der 1990er Jahre, die bei einem angesehenen Verlag lieferbar sind. Hier ein Link mit Leseprobe.

Es veränderte in Deutschland den Blick auf die Shoah.

Es ist nicht allein eine Autobiographie der am 30. Oktober 1931 in Wien geborenen Autorin. Die feministische Germanistin und Kleist-Spezialistin reflektiert darin, wie traumatische Erfahrungen das weitere Leben grundieren.

Die Nazidiktatur überlebte die nach Theresienstadt und in die Konzentrationslager Auschwitz und Groß-Rosen Verschleppte nur denkbar knapp. Als deutschsprachiges Mädchen mischte sie sich unter vertriebene Deutsche und musste ihre Gefühle verbergen. In "weiter leben" erzählt sie, wie diese über den Verlust der Heimat entsetzt waren, und sie sich freute, dem Tod wahrscheinlich noch mal entronnen zu sein. Sie war eine Überlebende, die "weiter leben" durfte wie musste.

Über die deutsche Sprache blieb sie mit ihrer Herkunft verbunden, aber leben wollte sie woanders - sie emigrierte in die USA.

Mit sechzig Jahren schrieb sie ihr richtungsweisendes Werk, das sie zur Bestsellerautorin machte und sie erhielt weite Beachtung.

Hier ein Spiegel-Interview aus dem Jahr 2006, das zeigt, warum sie verstörte:

Meine Mutter hat dort (in Auschwitz, A. E.) teilweise den Verstand verloren, aus guten Gründen. Sie hat sehr schnell wahrgenommen, dass wir in einer unseligen Umgebung gelandet waren. Dass da etwas geschieht, was es noch nie gegeben hat. Andere, normalere Menschen ... – haben hingegen gesagt: "Ja, aber wir sind doch in Mitteleuropa." ... Meine Mutter ... war bis an das Ende ihres Lebens noch paranoid. Wir sind mal an einer Unfallstätte vorbeigefahren, und sie hat gesagt: "Siehst du die Polizei, die wollen mich deportieren."

SPIEGEL: Gut, das kann eine Folge dieser schrecklichen Erfahrungen sein. …

Klüger: Es kann sein. Aber interessanter ist doch die Überlegung, ob Menschen, die paranoid sind, wenn sie wirklich verfolgt werden, besser reagieren als solche, die es nicht sind. ... Es sind die Verrückten, die auf verrückte Situationen richtig reagieren.

Einen ihrer letzten großen Auftritte hatte sie 2016 im Deutschen Bundestag, im Hauptteil dieses piqs kann man ihre Rede hören und sehen; hier kann man sie lesen.

Wenn die deutsche Zivilbevölkerung später beteuerte, sie hätte nichts über den Massenmord gewusst, so kann man sich darüber streiten, ob das stimmt, doch die massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit war sehr wohl bekannt. Viele Jahre später, als ich oft in Deutschland war und auch wieder viele Freunde hier hatte (und noch habe), stieβ ich gelegentlich auf Menschen, deren Familien Zwangsarbeiter während der Nazizeit im Hause hatten. Meine Freunde erinnerten sich an diese verschleppten Menschen mit Behagen, oft auch mit Zuneigung. Die hatten es gut bei uns. Die haben mit uns Kindern gespielt und gelacht und gesungen. Die wohlmeinenden Erzähler wussten nicht, oder wollten nichts wissen, von der wachen Zurückhaltung, dem Miβtrauen, der Verachtung oder dem Neid, der Über- oder Unterschätzung des Feindes, die in diesen unbezahlten Haushaltshilfen gesteckt haben muss.

Gestern & Heute: Ein kleines Dossier zum Tod der großen Ruth Klüger

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Kommentare 2
  1. Berthold Kaufmann
    Berthold Kaufmann · vor 4 Jahren

    Danke für diesen piq..... hier noch der letzte Abschnitt aus der Rede. Das ist wichtig, um den Bezug zu heute (2016) herzustellen, der Frau Klüger offensichtlich sehr wichtig war... und der im Jahr 2020 sehr beschämend für uns alle ist:

    Zitat, letzter Absatz der Rede nach dem Protokoll aus dem Bundestag 27.1.2016

    Meine Herren und Damen, ich habe jetzt eine ganze Weile über moderne Versklavung als Zwangsarbeit in Nazi-Europa gesprochen und Beispiele aus dem Verdrängungsprozess zitiert, wie er im Nachkriegsdeutschland stattfand. Aber eine neue Generation, nein, zwei oder sogar drei Generationen sind seither hier aufgewachsen, und dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen, dank seiner geöffneten Grenzen und der Groβherzigkeit, mit der Sie die Flut von syrischen und anderen Flüchtlingen aufgenommen haben und noch aufnehmen. Ich bin eine von den vielen Auβenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergegangen sind. Das war der Hauptgrund, warum ich mit groβer Freude Ihre Einladung angenommen und die Gelegenheit wahrgenommen habe, in diesem Rahmen, in Ihrer Hauptstadt, über die früheren Untaten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches Vorbild entstanden ist und entsteht, mit dem bescheiden anmutendem und dabei heroischem Wahlwort: Wir schaffen das.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 4 Jahren

      Danke für die Ergänzung.

      Ich überlegte sogar, das zu zitieren.

      Außerdem habe ich die Feministin nur erwähnt und ihre Sicht nicht erläutert.

      Sie streicht nicht Goethe und Kleist aus dem Kanon, sondern sie liest sie neu und teilweise überraschend. Deshalb heißt ihre berühmte Aufsatzsammlung FRAUEN LESEN ANDERS:
      https://www.dtv.de/buc...

      Ja, es gibt viel zu erwähnen.

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