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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Stanisław Lem zur Vergangenheit der Zukunft

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 13.09.2021

Der im Jahr 2006 verstorbene polnische Philosoph und Essayist, der vor allem als Science-Fiction-Autor Weltruhm errang, wäre nun 100 Jahre alt geworden.

Gelegenheit für Würdigungen, Neuauflagen und eine Biografie. Wie so oft, ist die lange Nacht im Deutschlandfunk unwahrscheinlich erhellend und bietet auch viel zusätzliches Material.

Auf den ersten Blick überrascht es, dass Dietmar Dath die herausragende Stimme dieser Sendung ist. Dieser ist zwar nicht nur ein ausgewiesener Kenner der Science Fiction (siehe diesen älteren piq) und schreibt selber welche, aber er ist ein bekennender Marxist. Und der zu würdigende in Lemberg geborene polnisch-jüdische Intellektuelle entwickelte sich in gewissem Sinne zu einem Reaktionär.

Er erlitt und überlebte etliche grausame Staats- und Gesellschaftsformen: von der Okkupation durch die Nazidiktatur über den Stalinismus bis zur polnischen Diktatur.

Zunehmend verzweifelte und zweifelte er an der Möglichkeit, Utopien zu verwirklichen und dadurch bessere Verhältnisse zu ermöglichen.

Seine Haltung charakterisiert Dietmar Dath:

Ihr werdet den Schlamassel nur vergrößern. Das hat manchmal sarkastische Formen angenommen bei ihm wie zum Beispiel in dieser Erzählung über diesen Wissenschaftler in „Nacht und Schimmel“: Was ist die nächste Evolutionsstufe? Naja, tot sein, und solche Scherze. Aber es hat einen ernsten politischen Hintergrund dahingehend, dass er halt tatsächlich mitten in einem sozialen Experiment gelebt und geschrieben hat, das als ein sehr großes Versprechen angefangen hat und ihn einfach sehr stark enttäuscht hat. ‚Kluger Reaktionär‘ – damit meine ich, dass er tiefgründig tatsächlich insofern ist, als er die Dinge zu Ende denkt. Also nicht einfach nur sagt: Brecht gar nicht erst auf mit euren Versuchen, das Schicksal zu meistern und das menschlichen Glück zu verwirklichen und die menschliche Angst und das menschliche Leiden zu verstopfen. Sondern ich zeige euch mal, ich rechne euch mal durch, wo das jetzt wieder schief geht. Das ist eine kluge Form von Reaktion, die also nicht verbietet, darüber zu reden, was ein revolutionärer Aufbruch wäre, sondern diesen Aufbruch sozusagen solange durchrechnet, bis er an sein Ende kommt. Darin findet er sich übrigens durchaus einig mit Leuten wie Engels, die sagen, wenn man es dann ganz zu Ende denkt, ist die Erde irgendwann ein kalter Stein. Dass wir alle sterben müssen, ist ja so. Und dass die Welt nicht ewig ist und kein einzelnes Element der Welt ewig ist, das ist ja auch so. Das ist fast banal. Aber den Weg dann wirklich zu gehen und zu Ende zu denken, das ist eine Leistung der Intelligenz. Und er hat sozusagen auf der Ebene einen Dialog geführt mit den Leuten, die sich damals noch fortschrittlich nannten.

Wer hören und lesen will, wie Stanisław Lem im Original redete und argumentierte, findet hier einen Dialog über den Fortschritt. (Das Gespräch mit Adolf Stock aus dem Jahr 1992 findet sich auf der Webseite des Autors, das eine kleine, größer werdende Interviewschatzkammer ist.)

Heute sieht der Marxist Dietmar Dath den bewunderten Reaktionär Stanisław Lem in einer tragischen Position. Wie das? Hat er in seiner Kritik der Utopie nicht gewonnen?

Also die Tragik ist im Grunde die, dass das, wofür er viel Intelligenz verwendet hat, diese Art von Reaktion, inzwischen so ein allgemeines dumpfes Empfinden ist. Ja, ja, hat sowieso keinen Sinn. Und damit wäre er übrigens nicht einverstanden gewesen, weil dazu war er einfach zu klug.

Dietmar Dath macht die Dialektik von Fortschritt und Reaktion stark und ebenso die von Utopie und Realpolitik.

Dafür spricht auch, dass der große Autor bereits 20 Jahre vor seinem Tod seinen letzten Roman schrieb. Die Postdemokratie des angeblich freien Polens inspirierte ihn nur noch zu Essays.

Gestern & Heute: Stanisław Lem zur Vergangenheit der Zukunft

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Kommentare 3
  1. Thomas Wahl
    Thomas Wahl · vor 3 Jahren · bearbeitet vor 3 Jahren

    Was zeichnet eigentlich einen bekennenden Marxisten aus? Ich würde mich ja selbst auch als kritischen Marxisten sehen. Aber der Begriff ist weder geschützt noch definiert. Jeder kann sich oder andere als solchen bezeichnen - lobend oder verachtend. Und bekanntlich wollte Marx selbst nie Marxist sein. Waren nicht viele, die sich selbst als Marxisten sahen, selbst Reaktionäre, die ihre Gegner brutal verfolgten - sobald sie die Macht dazu hatten?

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor 3 Jahren

      Stimmt, Marx wollte kein Marxist sein.

      Dath dafür aber so was von volle Pulle. Er will sogar ein orthodoxer Marxist sein, der Marx, Engels und Lenin für eine Troika der Genies ansieht.

      Ironie? Bestimmt koketiert er auch, aber nicht nur.

      Immerhin gab er eine Neuedition von "Staat und Revolution" heraus. In der Einleitung lobt er Lenin so stark wie man es nur machen kann, wenn man in Rheinfelden und nicht in Ostberlin geboren ist.

    2. Thomas Wahl
      Thomas Wahl · vor 3 Jahren

      @Achim Engelberg Ich mag Dath eigentlich. Natürlich nicht ganz so sehr wie Lem. 😏

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