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Zeit und Geschichte

Unpiq: Wie wird der Hungermord unter Stalin heute benutzt?

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergSamstag, 28.11.2020
Der vorsätzliche Hungertod von Millionen in der Sowjetunion ist eines der grauenhaften Verbrechen im extremen 20. Jahrhundert. Am 28. November wird in der Ukraine dieses Massenmords gedacht. Das Datum ist nicht zufällig gewählt, denn am 28. November 1932 beschloss das Politbüro der Ukrainischen Sowjetrepublik die Verhängung von „Naturalienstrafen“ und die Einführung von „Schwarzen Listen“ gegen opponierende Bauern.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde dieses Verbrechen zum zentralen Erinnerungsprojekt der Ukraine. Es wird heute als Holodomor bezeichnet, was keine direkte sprachgeschichtliche Verbindung zum Holocaust hat, aber durchaus eine indirekte.

Jedes Jahr plädieren einige Publizisten, dass der deutsche Bundestag dieses Verbrechen als Genozid anerkennt. So auch im ausgewählten Beitrag, der das so begründet.

Mit dessen Verurteilung aber würde der Deutsche Bundestag ein Zeichen der Verbundenheit mit der Ukraine setzen, die nach einer langen leidvollen Geschichte einen neuen, mutigen Anlauf unter den Vorzeichen von Demokratie und europäischen Freiheitswerten nimmt.

Dem ist auf mehreren Ebenen zu widersprechen – geschichtlich wie politisch.

Im Namen von Toten sterben bis heute Lebende, wie soeben in Bergkarabach, da die Geschichte in Form von Erinnerungen und Propaganda die Gegenwart verändert. Viele Beispiele dafür gibt der große niederländische Geschichtserzähler Geert Mak in seinem neuen Werk GROSSE ERWARTUNGEN.

Die Ukrainer gaben wieder den Russen die Schuld an der entsetzlichen, durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft verursachten Hungersnot der Jahre 1932 und 1933. ... Die russische Propaganda wiederum erinnerte mehr oder weniger subtil an die Verbrechen der ukrainischen Nazis …, die polnische und ukrainische Widerstandskämpfer umgebracht, Massaker an Juden begangen und auch als Wachleute in den Konzentrationslagern gemordet hatten.

Die Wahrheit der Geschichte ist widersprüchlicher als Propaganda: Einer der Haupttäter der Hungersnot ist der Ukrainer Wsewolod Balyzkyj, der wenige Jahre später im Großen Terror selbst ermordet worden ist. Außerdem war der grausame Hungertod nicht auf die Ukraine beschränkt, sondern auf die Gebiete, in denen es Widerstand gegen die Beschlüsse der Moskauer Zentralmacht gab. So auch in Kasachstan, was man in diesem Buch nachlesen kann. Der Autor Robert Kindler gibt auf dem für viele piqd-Nutzer bekannten Portal dekoder einen guten Überblick für die gesamte Sowjetunion.

1932/33 kam es überall im Land zu Versorgungsengpässen, doch in der Ukraine, in Kasachstan, dem Wolgagebiet, dem Nordkaukasus und anderen Regionen der Sowjetunion herrschte eine dramatische Hungerkatastrophe, der insgesamt zwischen fünf und sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die meisten Menschen starben in der Ukraine, wo rund 3,3 Millionen Tote zu beklagen waren. In der Ukraine ist der Holodomor heute integraler Bestandteil der nationalen Erinnerungskultur und gilt als Genozid. Diese Klassifizierung ist jedoch umstritten.

Was historisch nicht funktioniert, klappt oft auch politisch nicht. Wenn die Bundesregierung sich einseitig auf die ukrainische Position stellte, wäre sie diplomatisch schwächer; etwa bei Vermittlungen beim Krieg in der Ostukraine, den Russland begonnen hat und bei dem Woche für Woche Menschen sterben.

Meistens verweisen diejenigen, die fordern, andere sollten die staatliche ukrainische Erzählung vom Genozid übernehmen, auf den demokratischen Aufbruch dort. So auch hier.

Ja, die Ukraine ist demokratischer als Russland, aber es bleibt immer noch eine Oligarchenrepublik. Und die neuen Versuche, der Korruption Herr zu werden, sind zumindest bedroht. Vor dem Aufstand 2013/14 lag die Ukraine nach dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International hinter Russland, das man mittlerweile überholte. Nun liegt man gleichauf mit dem autoritären Aserbaidschan, aber ist schlechter als die Türkei. So dolle is det nicht.

Nach sechs Jahren kann man sich mutigere Anläufe zur Demokratie vorstellen.

Unterstützung, wenn die Mehrheit in der Ukraine eine solche bei der Ausgestaltung der Demokrie will: ja

Eine bessere, abgestimmte Strategie im Umgang mit dem autoritären Russland: ja

Die Übernahme von Geschichtspolitiken anderer, die die Historie missbrauchen: nein

Unpiq: Wie wird der Hungermord unter Stalin heute benutzt?

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