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Zeit und Geschichte

Gestern & Heute: Rechte Leute von links – eine Tiefengeschichte

Achim Engelberg
schreibt, kuratiert, gibt heraus
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Achim EngelbergMontag, 14.12.2020

Die SPD hat eine Schlüsselstellung, um die Arbeiterschaft und betrieblich Aktive von einer Abwanderung zur AfD abzuhalten, aber leider versagt sie bei dieser Aufgabe.

So Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, im Gespräch und er begründet es so:

Wenn von sozialen Problemen die Rede ist, wird das oft verengt auf Armut oder äußerste Prekarität. Dabei empfinden es Facharbeiter als riesiges Problem, dass wir zwar ein Jahrzehnt der Prosperität hinter uns haben, sie selbst aber abgehängt wurden und keinen Anteil an diesem Zuwachs an Wohlstand haben.

Im augenöffnenden Interview anlässlich des Erscheinens seines Werks IN DER WARTESCHLANGE zeigt er auf, wie die AfD wirkt:

Die AfD macht die Unsichtbaren sichtbar. ... Sie gibt Arbeitern das Gefühl, in der Öffentlichkeit eine Stimme zu haben, der Maßstab für Normalität zu sein. Das ist der soziale Kitt für eine imaginäre Revolte, die sich gegen das Establishment richtet.

So wählen Menschen, die in vergangenen Zeiten traditionell links wählten, nun häufig rechts.

Es ist ein internationales Phänomen, das auftaucht, wo die Arbeitswelt sich umstürzend wandelt.

Arbeiter zu sein ist heute nicht mehr verbunden mit Produzentenstolz oder dem Bewusstsein, nur kollektiv aufsteigen zu können. Wir haben bei unseren Befragungen immer wieder den Satz gehört: Arbeiter wird man nur, wenn man muss; wer kann, der studiert oder geht ins Büro.

Was aber soll man angesichts des notwendigen ökologischen Wandels und dem Verschwinden der Schornsteinindustrien in unseren Breiten tun?

Man muss den Arbeiterberuf aufwerten. Es gibt schon lange Vorschläge, den Beruf des Facharbeiters mit dem des Ingenieurs zu verbinden. Solche Fähigkeiten werden im Strukturwandel dringend gebraucht werden. Auch Menschen aus der Produktion ohne Abitur sollten die Möglichkeit erhalten, sich an der Universität weiterzubilden. Dazu muss es natürlich staatliche Unterstützung zur Kompensation der Einnahmeausfälle geben, in Österreich wird das schon praktiziert.

Und hier gibt es noch eine aufschlussreiche Rezension des Werks.

Der Band präsentiert Befunde der empirischen Forschung aus vier Jahrzehnten. Der Wissenschaftler will eine „rechte Tiefengeschichte“ erzählen, „die sich im Zeitverlauf radikalisiert“ hat. Im Eingangskapitel berichtet er von irritierenden Erfahrungen, die er Ende der 1980er Jahre bei Lehrgängen im IG-Metall-Bildungszentrum Sprockhövel bei Bochum machte. Gewerkschaftliche Jugendvertreter, die sich tagsüber an der Politischen Ökonomie von Karl Marx abarbeiteten, gaben beim abendlichen Bier offen zu, die Partei „Die Republikaner“, eine Vorläuferin der heutigen AfD, gewählt zu haben.

Gerade dieser lange historische Atem zeigt, dass die Verwendung des Gendersterns oder Vergleichbarem nicht der Grund für den Unmut der Arbeiterklasse ist. Solche Sprachregelungen gab es noch gar nicht, als immer mehr linke Leute nach rechts schwenkten.

Den Begriff TIEFENGESCHICHTE übernimmt Dörre von der amerikanischen Soziologin Arlie Russell Hochschild. Das Werk der mittlerweile 80-jährigen erhielt erst in den letzten Jahren hierzulande Aufmerksamkeit. Hier wird das für Klaus Dörre wichtigste Werk vorgestellt. Ein Werk von gestern, das das Heute erhellt.

Gestern & Heute: Rechte Leute von links – eine Tiefengeschichte

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Kommentare 4
  1. Cornelia Gliem
    Cornelia Gliem · vor fast 4 Jahre

    schon alles richtig. Aber offensichtlich versagt unser bildungssystem wenn die Menschen die hier den Arbeitern zugezählt werden (als gäbe es nicht so viele Prekäre in allen Berufen und Hilfsarbeiter die weit entfernt von status des Facharbeiter s sind) nicht über ihren tellerrand blicken können und dann letztendlich nur als gekränkte weiße Männer reagieren... und es wird ein bissl unterschlagen dass die afd nicht nur von "Arbeitern" gewählt wurde sondern auch von denen denen es finanziell gut geht. ..

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      Durch das Foto und den Hinweis, dass marktliberale Professoren die AfD gründeten, ist ja ein Zeichen gesetzt. Außerdem spricht Dörre ja von 35-40 % der Arbeiter, die die AfD teilweise wählen. Also die Mehrheit wählt sie nicht.
      Dennoch, deshalb nennt er es Tiefengeschichte, gab es in den letzten 40 Jahren einen Rechtstrend unter Arbeitern, erst im geteilten, dann im staatlich geeinten Land.

      Er übernimmt etliche Begriffe der amerikanischen Soziologin Hochschuld, die das in vergleichbarer Weise für die USA zeigte. Dabei waren es nicht nur weiße Männern, sondern auch andere.

      Zwar ohne empirische Daten, sondern autobiografisch kommt Eribon in "Rückkehr nach Reims" zu ähnlichen Beschreibungen für Frankreich.

      Kurzum: Es geht um Veränderungen, die noch nicht beendet sind, und die größer als Trump oder die AfD sind.

  2. Jürgen Klute
    Jürgen Klute · vor fast 4 Jahre

    Danke für den Hinweis. Ich kann vieles in dem Artikel wiedererkennen, das mir aus langjährigen Erfahrungen und Beobachtungen aus meiner Arbeit als Industrie- und Sozialpfarrer im Ruhrgebiet (Kirchenkreis Herne) vertraut ist.

    1. Achim Engelberg
      Achim Engelberg · vor fast 4 Jahre

      Das erweitert den Kreis der Beobachter. Danke.

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