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Zeit und Geschichte

Linguistikprof. Helmut Weiß: "Duden folgt einer verfehlten Ansicht"

Dirk Liesemer
Autor und Journalist
Zum Kurator'innen-Profil
Dirk LiesemerMontag, 27.12.2021

Einiges wurde hier bei piqd schon über das Gendern geschrieben, ich finde es aber immer noch aufregend, wie viele neue Facetten sich diesem Thema abgewinnen lassen.

Während die Befürworter auf kognitionswissenschaftliche Studien verweisen, meist ohne deren Grenzen kritisch zu erörtern, so ist andererseits bislang noch kaum untersucht worden, wie sich das generische Maskulinum im Laufe der vergangenen Jahrhunderte entwickelt hat.

Tatsächlich liegt eine solide geschichtliche Untersuchung dazu erstaunlicherweise bisher nicht vor. Allerdings arbeitet der hier interviewte Helmut Weiß gerade an einer solchen Studie. Weiß ist Professor am Institut für Linguistik der Universität Frankfurt. Er forscht zur Geschichte der deutschen Sprache von den Anfängen des Althochdeutschen bis zur Gegenwart und befasst sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Thema Sprachwandel.

In diesem kurzen Gespräch skizziert er, wie sich zuerst das Neutrum und das Maskulinum aus dem Indogermanischen entwickelten, ehe später das Femininum entstand. An einem Beispiel kritisiert er den Duden und betont, dass das grammatische Geschlecht im Plural ohnehin neutralisiert sei.

Vor allem habe ich aus diesem Gespräch mitgenommen, dass die Linguistik keine Hilfswissenschaft der Kognitionswissenschaft ist. Mit anderen Worten: Die vielzitierten Assoziationsstudien sind schön und gut, spielen aber für die Bedeutung eines Wortes keine Rolle. Oder wie die amerikanische Verlegerin Gertrude Stein einmal sagte: "Rose is a rose is a rose is a rose."

Linguistikprof. Helmut Weiß: "Duden folgt einer verfehlten Ansicht"

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Kommentare 5
  1. Michael Praschma
    Michael Praschma · vor fast 3 Jahre

    Da unterschlägt der Herr Professor aber einen Teil der Geschichte, wenn er sagt, das generische Maskulium sei immer schon so verstanden worden, dass Frauen mitgemeint waren (wie es immer noch so schön heißt). Das "Handbuch geschlechtergerechte Beispiele" von Duden hat eine Reihe historischer Belege parat (S. 22 ff.), die zeigen, dass das eben genau nicht selbstverständlich ist.
    So gab es 1912 einen juristischen Disput dazu, dass eine Frau in den Böhmischen Landtag gewählt worden war. Sie könne als Frau gar nicht dort einziehen, denn im Gesetz stünde ausdrücklich "Als Landtagsabgeordneter ist jeder gewählt, der…" Mit derselben Argumentation wurde in einem Redenbeitrag in der Frankfurter Nationalversammmlung 1849 ausgeschlossen, einer Frau das Recht zuzugestehen, mit entsprechender Befähigung ein Amt auszuüben.

    1. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor fast 3 Jahre

      Interessanter Hinweis! Ich nehme an, Sie meinen den Fall Božena Viková Kunětická, oder? Dass es sich dabei um einen Streit um das generische Maskulinum gehandelt hat, ist vielleicht nur Interpretation des Dudens. Die Geschichte liest sich hier jedenfalls etwas anders: https://deutsch.radio.... So sagt die Historikerin Jitka Gelnarová: "Damals [1912] kam es zu einer internationalen Sensation. Denn Frauen konnten nicht nur wählen, sondern sich auch wählen lassen. Und tatsächlich erhielt mit Božena Viková-Kunětická erstmals eine Frau die notwendige Stimmenzahl zum Einzug in dieses Regionalparlament. Sie war also die erste tschechische Abgeordnete. Doch ihren Platz im Landtag konnte sie nicht einnehmen, weil den Frauen den damaligen Regeln nach der Zutritt zum Gebäude verwehrt wurde." Oder von welchem Fall ist die Rede?

    2. Michael Praschma
      Michael Praschma · vor fast 3 Jahre

      @Dirk Liesemer Da in beiden Quellen dieselbe Jahreszahl genannt wird, ist die Abgeordnete wohl die genannte. Im Handbuch steht das nicht. Die Quelle dort ist Marianne Grabrucker: Die Rechtssprache ist männlich, in: Anwaltsblatt 12 (1988) sowie Gisela Schoenthal: Personenbezeichnungen im Deutschen als Gegenstand feministischer Sprachkritik in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 17 (1989)

    3. Dirk Liesemer
      Dirk Liesemer · vor fast 3 Jahre

      @Michael Praschma Hm, verstehe nur noch nicht, was das mit der Sprache zu tun haben soll, wenn Frauen dort 1912 bereits passives wie aktives Wahlrecht hatten. Laut dieser Quelle war in Böhmen überhaupt kein Geschlecht juristisch festgelegt worden, was dafür spricht, dass sich die Frauen zu recht denn auch nicht vom generischen Maskulium haben irritieren lassen https://landesecho.cz/...

    4. Michael Praschma
      Michael Praschma · vor fast 3 Jahre

      @Dirk Liesemer Wenn (!) Grabrucker und Schoenthal das sauber recherchiert haben, hat jemand (Thun-Hohnestein?) den Gesetzestext (welchen, ist noch die Frage) eben so verstanden, dass Frauen nicht mitgemeint waren. Die beiden Quellen sind wahrscheinlich nicht online.
      Der Text im "Landesecho" unterstreicht aber gerade die Selbstverständlichkeit, dass das vermeintlich "nur" generische Maskulinum allgemein eben männlich gemeint und verstanden wurde. Und eben das lässt Weiß außer Acht.

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