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Fundstücke

Staat in der Pandemie – zwischen Etatisten und Libertären

Michael Hirsch
Philosoph und Politikwissenschaftler, freier Autor und Dozent
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Michael HirschMontag, 11.01.2021

Die linke Wochenzeitung Jungle World widmet der Frage nach der Rolle des Staates in der Coronakrise einen bemerkenswerten Grundsatzartikel. Darin wird die Geschichte des marxistischen Denkens über die Rolle des Staates im Kapitalismus auf erhellende Weise mit der aktuellen Konstellation des Staates in der Pandemie verbunden.

  • "Die erhöhte Prominenz des Staats in der Krise führt nicht automatisch zu einem klareren Blick auf diesen. Im Gegenteil hat die Krise zur Verbreitung verschiedener Illusionen über den Staat beigetragen. Diese zirkulieren quer durch die politischen Lager, in der Linken und der Rechten, unter Befürwortern und Kritikern des derzeitigen Staatshandelns. Sie befeuern nicht nur die Proteste der Coronaleugner, sondern haben auch zur weitgehenden Paralyse der Linken in den vergangenen Monaten ­beigetragen".

Es zeigt sich dabei eine spiegelbildliche Gegenüberstellung: Auf der einen Seite die Denkschule der Etatisten, die den Staat eher unkritisch als Verkörperung von Vernunft und Gemeinwohl sehen. Auf der anderen Seite die Schule der Libertären, die ihn ebenso unkritisch als freiheitsfeindliches Ungeheuer sehen und ablehnen.

Demgegenüber rekonstruiert der Artikel ausgehend von Marx' und Engels' Thesen zur Rolle des Staates als "idealem Gesamtkapitalisten" den Widerspruch des aktuellen Staatshandelns in der Pandemie: Auf der einen Seite dem Imperativ der Ermöglichung der ungehinderten Kapitalakkumulation unterworfen, also dem freien Spiel der Kräfte verpflichtet und Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit gegenüber feindlich eingestellt - auf der anderen Seite dem langfristigen Schutz der Gesundheit als Inbegriff der zukünftigen Möglichkeit der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verpflichtet, und von daher auch zu kurzfristig harten Eingriffen in die Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern verpflichtet.

Dieser Widerspruch wird sehr überzeugend entfaltet und ermöglicht einen scharfen Blick auf die streng genommen unauflösbare Paradoxie staatlichen Handelns in der Pandemie. Ebenso scharf wird die Zwillingsbruderschaft zwischen rechten und linken Fundamentalkritiken staatlicher Eingriffe in bürgerliche Freiheiten als die zwei Seiten derselben Medaille einer undialektischen Staatskritik beleuchtet.

Der Artikel ist nicht nur deswegen lesenswert, weil er die Nähe von linkem und rechtem libertärem und populistischem Denken als eine Grundkonstellation der Gegenwart verdeutlicht, und damit auch die Zwillingsbruderschaft von Etatismus und libertärer Staatskritik. Er zeigt der aufmerksamen Leserin auch die Grenzen der marxistischen Staatsanalyse auf. Diese kann zwar die Widersprüche souverän aufzeigen, in denen kapitalistische Staaten generell, und speziell in Pandemien stecken.

Doch sie bleibt am Ende, wenn sie nicht über diese generelle marxistische Staatstheorie hinausgeht, unpolitisch, da sie auf die meisten konkreteren Fragen nach politischen Strategien der Linken in Sachen Infektionsschutz und Gesundheitspolitik keine inspirierenden Antworten gibt, die über allgemeine theoretische Hypothesen hinausgehen. Dafür braucht man eine über die orthodoxe marxistische Lehre hinausgehende Staatstheorie neomarxistischer, demokratisch-sozialistischer Art, die sich konkreter mit der Problematik der Verhältnismäßigkeit von demokratischen Eingriffen des Rechtsstaates in Grundrechte auseinandersetzt. Anstatt bescheidwisserisch pauschal 'den Staat' auf seine Rolle als idealen Gesamtkapitalisten zu reduzieren - und damit demokratisch-sozialistische Reformperspektiven zugunsten einer vagen Lehre von 'Revolution' oder 'Systemwechsel' außer acht zu lassen.  


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